Die Ashdele
von Rose Winter aus Siwana
Die Ashdele zogen vor langer Zeit mit unserem Volk aus dem entfernten Osten in das heutige Dorvaan und siedelten sich dort an, während wir auf die Insel Selegondo auswanderten. Sie hatten zunächst mit den eingeborenen Stämmen zu kämpfen, die sich aber mit der Zeit in die Hänge der Handarberge zurückzogen.
Die Ashdele sind bis heute vor allem Bauern. Zwar leben in den kleinen Städten auch Handwerker, Händler und Kaufleute, aber die meisten bebauen doch den fruchtbaren Boden Dorvaans. Es gibt keinen Adel in unserem Sinn, keine Fürsten, keine großen Städte und Paläste.
Gewöhnlich haben die Ashdele rotbraune Haare, selten auch Haare von einem kräftigen Rotton. Ihre Augen sind grün, grau oder braun und wirken oft blass und ein wenig farblos. Ihre Haut ist hell und nicht selten auch von Sommersprossen übersät, die die Ashdele als Zeichen göttlicher Huldigung betrachten. Woher sie zu dieser seltsamen Ansicht kommen, ist mir nicht klar - immerhin weiß jedes Kind, dass Sommersprossen ein Rest des Sandes, den Warlei einst über die Lande verstreute, sind. Allerdings haben die Ashdele allgemein einen seltsamen Glauben, denn sie beten zwar zu Guda, leugenen aber die Existenz der Geweihten.
Mit knapp fünfeinhalb Fuß sind sie mittelgroß, gewöhnlich aber von zierlicher, schmaler Gestalt.
Ihre Kleidung ist aus gut gearbeiteter, aber grober Wolle, die meist bunt gefärbt und mit Stickereien verziert ist. Männer tragen eine Hose und darüber eine knielange Tunika, Frauen sind üblicherweise in einen Rock und ein Überhemd mit Schnürungen an den Ärmeln und an der Brust gekleidet. Beiderlei Geschlechter umwickeln die Füße mit Wollstreifen und ziehen darüber kunstvoll geschnitzte Holzpantoffeln. Auf uns machen sie einen harten, ungemütlichen Eindruck, aber es ist nicht abzustreiten, dass sie deutlich stabiler und längerlebig sind als unsere Lederschuhe.
Bauern mit eigenem Besitz lassen die Haare lang wachsen, alle anderen (Stadtbewohner, Bedienstete, Kinder) schneiden sie kurz. Darüber tragen Frauen gewöhnlich bunte Kopftücher, an denen sich der Reichtum der jeweiligen Familie ablesen lässt und auch, welche Tätigkeit eine Frau ausübt. Denn alle, die keine schweren körperlichen Arbeiten verrichten müssen, lassen die Tücher frei über die Schultern fallen, während arbeitende Frauen sie im Nacken einschlagen und festbinden.
Im Zentrum der ashdelischen Gesellschaft steht die Sippe, also die Großfamilie, die auch noch die weitläufigere Verwandtschaft umfasst. Die Galreele - die Oberhäupter der Sippen - haben die eigentliche Macht im Land und werden im familiären Umfeld als Gesetzessprecher und Überlieferer der Ahnengeschichte sehr hoch geschätzt. Eine Sippe ist gewöhnlich über viele Höfe verstreut, die durchaus auch durch große Entfernungen getrennt sein können. Zu den großen jährlichen Festen treffen sich aber alle Kleinfamilien einer Sippe auf dem Hof des Galree.
Heiraten können nur außerhab der eigenen Sippe geschlossen werden, das Ehepaar gehört danach traditionell der Sippe der Frau an, da es als Unglück betrachtet wird, wenn die Frau als die Trägerin der Fruchtbarkeit ihre Familie verlässt.
Die verschiedenen Sippen sind meist entweder über Ehen oder Handelsbeziehungen miteinander verbunden oder aber verfeindet. Das komplizierte Geflecht der Beziehungen zwischen den Sippen ist für uns kaum zu durchblicken, bestimmt bei den Ashdele aber den Alltag. Kämpfe zwischen verfeindeten Sippen sind häufig und sind das eine oder andere Mal auch schon zu überregionalen Kriegen ausgeartet. Vor gut fünfzig Jahren versuchte das Oberhaupt der Oglen-Sippe, das Land unter seiner Herrschaft zu einigen und gewissermaßen die Stellung eines Königs zu erlangen, aber er scheiterte an der starken Ausrichtung der Ashdele an ihren Sippen.
Jedes Jahr treffen sich die Galreele in Lechtalo am Galsee und halten dort Gericht über Streitigkeiten zwischen verschiedenen Sippen. Alle Fälle, die nur eine Sippe betreffen, werden vom jeweiligen Galree, behandelt. Bei der jährlichen Versammlung werden auch andere Angelegenheiten von Bedeutung besprochen, wie etwa die Wahl eines neuen Galree und der Bau eines Tempels.
Die größeren Städte (Nestant, Janneken, Zelinstat) haben im Wesentlichen ihre eigenen Gesetze und sind von der Versammlung nur wenig beeinflusst. Umso erstaunlicher ist es, dass Dorvaan nicht im Chaos versinkt - ein ähnlich uneinheitliches Recht wäre für Ahron undenkbar .
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