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Kinder der Nacht

X

Lacyi hatte Angst. Sie lag in dem weichen Bett, hatte die Decke bis zu ihrem Kinn hochgezogen und lauschte angestrengt. Sie wagte es nicht zu schlafen, weil sie befürchtete, es könnte tatsächlich ein Anatca kommen und sie töten. Kurz überlegte sie, ob sie die Höhle gleich noch verlassen sollte, aber dann stünde sie wieder alleine in den Bergen ohne eine Ahnung, wohin sie nun gehen sollte. Erst musste sie überlegen, wie ihr Leben nun weitergehen sollte, ehe sie von hier aufbrach. Davon abgesehen wollte sie wegen Rhal nicht gehen. Alles, was sie sich immer gewünscht hatte war, dass jemand sie so respektvoll und freundlich behandelte wie Rhal, dass jemand sie so sanft und ohne Gewalt berührte. Und jetzt sollte sie einfach gehen und ihn vergessen? Das war unmöglich, trotz der Furcht, die sie empfand.
Ein leises Geräusch verriet ihr, dass jemand die Vorhänge bewegt hatte und eingetreten war. Erschrocken presste sie sich in das Bett und zog die Decke schützend über ihren Hals.
"Keine Angst, ich bin es." Rhal ließ sich neben ihr auf der Bettkante nieder und Lacyi atmete erleichtert auf. "Hör zu, Lacyi, mein Verhalten vorhin tut mir leid. Du hattest Recht mit dem, was du über meine Mutter gesagt hast."
"Ich muss fort, oder?"
Rhals Schweigen war Lacyi Antwort genug. "Willst du, dass ich fortgehe?", fragte sie ihn leise.
Erneut schwieg Rhal, aber dann spürte Lacyi, wie er über ihren Arm strich. "Nein."
Sie war froh über seine Antwort, aber der Gedanke, dass sie von hier fortgehen musste, fiel ihr nun noch schwerer. Am liebsten wollte sie bei Rhal bleiben und Shorga einfach ignorieren, aber gleichzeitig hatte sie furchtbare Angst.
Wieder einmal schien Rhal ihre Gedanken lesen zu können, denn er sagte: "Du musst keine Angst haben. Ich werde hier bei dir bleiben - fürchte dich nicht vor dem Einschlafen."
"Danke", flüsterte Lacyi, und obwohl sie in der Dunkelheit kaum etwas erkennen konnte, war sie sich sicher, dass Rhal lächelte.

Sie schlief tatsächlich bald ein, aber sehr viel später erwachte sie für einige Augenblicke. Sie schlug die Augen auf und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Rhal lag neben ihr und hatte beide Arme um sie gelegt, die Decke um sie gehüllt und hielt sie fest umarmt. An seinem ruhigen, tiefen Atem erkannte sie, dass er schlief.
Lacyi fühlte sich sicher und geborgen und wenigstens in diesem Moment hatte sie keine Angst vor Shorga. Sie kuschelte sich fester an Rhals Körper und küsste ihn sacht auf den Mund. Wieder bedauerte sie es, dass er kein Mensch war, denn dann wäre alles so viel einfacher gewesen.

XI

Lacyi hatte in der folgenden Nacht das Gefühl, als hätte sich in Rhal etwas geändert, als würde er plötzlich akzeptieren, dass er anders war als die übrigen Anatca. Doch jetzt war es nicht nur Einbildung, wenn sie das Gefühl hatte, als würden alle sie anstarren. Ihr schlug tatsächlich eine unangenehme Feindseligkeit entgegen und Rhal wurde plötzlich misstrauisch betrachtet. Sie verstanden ihn nicht und das verunsicherte sie und Lacyi konnte sie irgendwie verstehen, obwohl es sie wütend machte, dass ihr und Rhal dadurch keine Chance gegeben wurde. Hatte es einen Sinn, sich dagegen zu stellen oder war es besser, wenn sie die Höhle noch bei Sonnenaufgang verließ? Rhal wusste, worüber sie nachdachte, aber er schien selbst ratlos und so sprachen sie wenig miteinander.
Schließlich beschloss Lacyi zum verborgenen Tal zu gehen, weil sie hoffte, dass sie dort ruhiger nachdenken könnte. Sie nahm eine Fackel mit und machte sich auf den Weg durch den dunklen Gang. Nachdem sie etwa die halbe Strecke hinter sich gebracht hatte hörte sie hinter sich Schritte. Sie freute sich darüber, dass Rhal ihr folgte und blieb stehen um auf ihn zu warten, bis sie plötzlich erkannte, dass es nicht Rhal war. Erschrocken rannte sie los, die Fackel entglitt ihren Händen, fiel zu Boden und erlosch dort. Für einen kurzen Moment hoffte Lacyi, der Anatca würde sie in der Dunkelheit nicht finden, bis ihr wieder einfiel, dass dieses Volk im Dunkeln besser sehen konnte als bei Licht. Sie verharrte einen Atemzug lang ängstlich, dann rannte sie weiter. Die Schritte hinter ihr kamen näher, obwohl sie so schnell lief, wie sie nur konnte. Und dann packte sie eine Hand am Oberarm und hielt sie fest, unbeeindruckt davon, dass sie wild um sich schlug. Lacyi schrie in der Hoffnung, irgendjemand würde sie hören und ihr helfen. Mit einer Hand tastete sie nach der Kette, die noch immer fest um ihren Hals lag. Der Anatca schien jede Achtung vor dem ailgh verloren zu haben, denn er zog sie zu sich heran, hielt sie mit eisernem Griff fest und beugte sich über sie. Verzweifelt wollte sie ihm ausweichen, aber da spürte sie bereits die spitzen Zähne an ihrem Hals. Es war ein heftiger, brennender Schmerz, der bald durch die Müdigkeit, die sich in Lacyi ausbreitete, gedämpft wurde.
Plötzlich hörte der Schmerz auf. Irgendjemand hatte den Anatca von ihr weggezerrt und auf die Erde gestoßen. Lacyi spürte, wie die Knie unter ihr nachgaben und im nächsten Moment sank sie zu Boden. Sie hörte ein leises Stöhnen, dann einen dumpfen Schlag und danach war es still. Lacyi verharrte reglos, sie wusste nicht, was geschehen war. Dann spürte sie eine leichte Berührung an ihrer Schulter.
"Rhal?", flüsterte sie zögernd.
Sie bekam keine Antwort, aber die Hand an ihrer Schulter glitt zu ihrem Hals hinauf und Lacyi konnte fühlen, wie sich die Wunde schloss. Sie tastete nach Rhals Hand und schloss ihre Finger darum. "Rhal, was ist passiert?"
Einen Moment lang verharrte er weiter in Schweigen, aber dann sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte: "Ich habe ihn getötet."
"Du hast...", begann Lacyi tonlos.
"Ja, ich habe ihn getötet", wiederholte Rhal mit emotionsloser Stimme. "Ich habe Veidhim getötet."
Lacyi versuchte zu begreifen, was das bedeutete. Rhal hatte einen Anatca getötet, um sie zu retten. Das war doch Notwehr, oder nicht? Sie hatte keine Ahnung von den Gesetzen der Anatca. Sie wusste nur, dass sie jetzt tot wäre, wenn Rhal nicht gekommen wäre.
"Geh, Lacyi." Rhals Stimme klang immer noch gleichgültig. "Geh ins verborgene Tal und flieh von dort in die nächste Stadt."
Sie war so verblüfft, dass sie vorerst kein Wort herausbrachte. Dann schüttelte sie heftig den Kopf. "Nein, ich kann jetzt nicht einfach fliehen. Was ist dann mit dir?"
"Ich weiß es nicht. Ich habe einen Dhiacheill getötet - ein schlimmeres Verbrechen gibt es nicht. Sie werden mich bestrafen."
"Dann komm mit mir mit!", sagte Lacyi eindringlich. "Geh nicht mehr zurück in die Höhle, sondern komm mit mir in die Berge. Dann werden wir dort gemeinsam leben und für immer zusammen sein und..." Sie brach ab, als ihr klar wurde, dass sie begann alberne Utopien zu entwerfen.
"Nein, ich muss zurück", murmelte Rhal mit müder Stimme. "Ich muss ihnen sagen, dass ich Veidhim getötet habe und abwarten, was sie dann mit mir machen."
Lacyi begriff, dass er es ernst meinte, dass er tatsächlich auf keinen Fall mit ihr fliehen würde. Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie entschlossen: "Dann gehe ich mit dir zurück."
"Nein, Lacyi, du musst weggehen, bitte."
Es war natürlich ein verlockender Gedanke, jetzt einfach wegzulaufen und sich der Verantwortung zu entziehen, aber Lacyi wusste, dass sie das nicht tun konnte. "Entweder du fliehst mit mir oder ich gehe mit dir zurück in die Höhle."
"Warum?"
"Weil ich dich nicht einfach im Stich lasse."
Rhal lachte kurz auf. "Glaubst du etwa, du kannst mir helfen?"
"Das weiß ich nicht, aber ich gehe auf alle Fälle mit dir zurück."
Rhal gab es auf zu protestieren. Er stand auf und gemeinsam hoben sie den toten Anatca hoch um ihn zurück in die Höhle zu tragen.

XII

Noch nie zuvor hatte Lacyi die Anatca in einem solchen Aufruhr gesehen. Aber da manche Anatca auf der Jagd und andere im Tal beschäftigt waren, konnte vorerst nichts getan werden. Die Versammlung konnte erst bei Sonnenaufgang stattfinden, wenn alle zurück in der Höhle waren. Veidhims toter Körper wurde auf eine Decke neben dem Brunnen gelegt, wo jeder ein kleines Geschenk für ihn zurückließ. Aber niemand weinte und in den Gesichtern der Anatca konnte Lacyi nur Bedauern und eine gewisse Verständnislosigkeit erkennen, keine Trauer.
Nach einer kurzen Ratlosigkeit, wie man nun mit dieser Situation umgehen sollte, nahm Shorga die Sache in die Hand und befahl ihrem Sohn und Lacyi sich in Rhals Wohnstätte zu begeben. Durch die Vorhänge sah Lacyi den Umriss eines Anatca, der aufpasste, dass sie nicht einfach flohen. Sie hatte Angst vor der Versammlung, aber gleichzeitig sehnte sie den Morgen herbei, da sie die Ungewissheit, was nun mit ihr und Rhal geschehen würde, kaum aushielt.
Rhal saß neben ihr auf dem Bett und starrte mit abwesendem Blick ins Leere. Mit den Gedanken schien er weit fort zu sein, so als versuchte er mit dem Geist vor dem Hier und Jetzt zu fliehen. Lacyi lehnte sich an ihn und streichelte seinen Rücken, aber er schien sie nicht einmal wahrzunehmen.
"Sie werden mich verbannen", sagte er plötzlich. "Für das, was ich getan habe werden sie mich mein Leben lang verbannen. Und dann bin ich nichts mehr, gar nichts. Ein verstoßener Dhiacheill ist ein Niemand."
Lacyi wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie hätte gern gefragt, was mit ihr geschehen würde, aber sie hatte zuviel Angst vor der Antwort. Deshalb blieb sie einfach nur schweigend neben Rhal sitzen.
Wie so oft schien er ihre Gedanken erraten zu können, denn er sagte: "Sie werden dir nichts tun. Veidhim hat das Gesetz des ailgh missachtet, aber das wird kein zweites Mal geschehen."
So sicher war sich Lacyi da nicht, aber sie nickte nur und versuchte es zu glauben. Im Grunde war es ihr egal, ob die Kette sie schützen würde oder nicht, denn wenn Rhal verbannt wurde gab es für sie keinen Grund mehr länger bei den Anatca zu bleiben. Sie versuchte sich vorzustellen, was es für Rhal bedeuten mochte verbannt zu werden. Anscheinend war das die schlimmste Strafe für einen Anatca. Und sie war schuld daran. "Es tut mir leid, dass ich dich in solche Schwierigkeiten gebracht habe."
Rhal sah sie überrascht an, dann schüttelte er den Kopf. "Dafür bin ich schon selbst verantwortlich. Ich hätte Veidhim nicht töten dürfen. Ich..." Er brach ab und senkte den Blick. Schließlich sprach er leise weiter: "Ich habe ihn gehasst. In dem Moment, in dem ich ihn von dir weggerissen habe habe ich ihn gehasst." Er lachte hilflos auf. "Jetzt auch noch Hass. Ich weiß nicht mehr, was für ein seltsamer Dhiacheill ich eigentlich bin. Es fehlt nur noch Trauer, dann beginne ich zu glauben, dass ich den Geist eines Menschen habe."
Lacyi dachte daran, dass das alles nur passiert war, weil sie so überstürzt Fenol verlassen hatte. Sie hatte noch nie für jemanden das gleiche empfunden wie für Rhal und war froh, dass sie ihn kennen gelernt hatte - und trotzdem, was hätte sie nicht alles dafür gegeben, alles Geschehene rückgängig zu machen. Wenn sie doch bloß nicht weggelaufen wäre, wenn sie doch nicht in die Berge gegangen wäre, wenn sie doch nicht dieses Teia gegessen hätte, wenn.... Sie wusste, dass es sinnlos war, so zu denken, denn jetzt war es ohnehin zu spät um etwas zu ändern. Und trotzdem.... sie bereute ihr Handeln mittlerweile zutiefst, denn ohne sie würde Rhal jetzt nicht die Verbannung befürchten müssen. "Bereust du es, dass du mir geholfen hast?" Sie konnte ihn bei dieser Frage nicht ansehen und sie hatte Angst vor der Antwort.
Rhal schwieg lange und sie dachte schon, er würde nicht mehr antworten, aber dann spürte sie plötzlich seine Hand auf ihrer Schulter. "Ich bereue es nicht", sagte er sanft. "Aber trotzdem war es ein Fehler. Menschen und Dhiacheill gehen sich wahrscheinlich deshalb aus dem Weg, weil sie wissen, dass ein Zusammenleben nicht gut gehen könnte. Damit, dass ich dich mitgenommen habe, habe ich nicht nur unserer Höhle sondern auch dir geschadet und das tut mir Leid. Aber ich bereue es nicht."
Lacyi hob den Kopf und begegnete Rhals nachdenklichem, ruhigem Blick. Er sah sie lange schweigend an, bis er sie schließlich an sich zog und sie küsste, und für einen Moment hatte Lacyi keine Angst vor dem, was bei der Versammlung vielleicht herauskommen würde.

XIII

Die Nacht musste schon fast vorüber sein, als schließlich ein Anatca kam um Lacyi und Rhal zu holen. Sie verließen die große Höhle, die jetzt so gut wie ausgestorben war und gingen durch einen gewundenen Gang zu einer weiteren Höhle, die Lacyi bisher noch nie betreten hatte. Auf einer Seite der Innenwand waren Sitzbänke aus dem Fels herausgeschlagen worden, und hier waren sämtliche Anatca versammelt. Eine Anatcafrau erhob sich und kam auf sie zu. Lacyi wusste, wer das war: Lhinnoath, die Führerin der Höhle.
Sie sagte etwas zu Rhal in dieser seltsamen, rauen Sprache, in der sie die Anatca bisher nur selten sprechen gehört hatte. Als Lhinnoath schwieg schien Rhal eine Weile zu überlegen, dann nickte er. Die Führerin wandte sich nun wieder den anderen Anatca zu. "Als Bethoun wäre es eigentlich Rhaleachs Aufgabe über einen solchen Fall zu verhandeln und zu urteilen, aber aus verständlichen Gründen ist das dieses Mal nicht möglich", erklärte sie. "Daher werde ich an seiner Stelle diese Versammlung leiten. Rhaleach, würdest du uns bitte genau erzählen, was vorgefallen ist?"
Rhal nickte und begann mit leiser Stimme zu sprechen. Er machte äußerlich einen sehr ruhigen, gefassten Eindruck, aber Lacyi, die dicht neben ihm stand, konnte spüren, dass er zitterte. Sie war nun so nervös, dass sie sich kaum auf das, was er sagte, konzentrieren konnte. Ihr war kalt und es schien ihr, als würden nicht dreißig sondern dreihundert Anatca sie anstarren. Sie war ihnen hilflos ausgeliefert - ganz egal, wie sie sie auch bestrafen würden, sie hätte nicht die geringste Chance sich gegen sie zu wehren.
Als Rhal endete war es einen Moment lang vollkommen still in der Höhle. Schließlich sagte ein Anatca, den Lacyi nicht beim Namen kannte, energisch: "Der Fall ist doch eindeutig, oder? Rhal hat Veidhim getötet und wird somit verbannt."
Ein aufgeregtes Stimmengemurmel setzte ein und alle sprachen wild durcheinander. Rhal warf Lacyi einen kurzen verzweifelten Blick zu. Nach einer Weile hatte Lhinnoath die Anwesenden wieder beruhigt. "In Ordnung, Durchaire, du bist für die Verbannung, aber was haben die anderen dazu zu sagen? Bitte nicht wieder alle gleichzeitig."
Lacyi schluckte und sammelte all ihren Mut zusammen. "Ich will bitte etwas sagen!" Fast bereute sie es den Mund aufgemacht zu haben, als nun alle sie anstarrten, aber dann riss sie sich zusammen und bemühte sich um eine möglichst feste Stimme: "Rhal hat doch nicht einfach so einen Anatca getötet. Er hat das nur getan, um mir zu helfen, und das war auch nur deshalb notwendig, weil Veidhim meine Kette ignoriert hat. Rhal hat ihn getötet, um mir das Leben zu retten und das kann man dann doch nicht als Mord bezeichnen."
"Er hat einen von uns getötet, um einen Menschen zu retten!", rief eine Anatcafrau. "Wie konnte er so etwas nur tun?"
Lacyi runzelte die Stirn. "Soll das heißen, das Leben eines Menschen ist weniger wert als das eines Anatca?"
Einige Anatca lachten spöttisch auf und die gleiche Frau wie vorher sagte: "Ihr Menschen glaubt doch auch, dass euer Leben mehr Wert ist als das eines Tieres, nicht wahr? Und ebenso finden auch wir, dass unser Leben mehr wert ist als eures."
"Aber wir sind keine Tiere!"
"Ihr seid aber auch keine Dhiacheill", entgegnete Durchaire. "Ihr seid für uns Beute wie Tiere für euch Beute sind und ich frage mich schon längst, wie wir auch nur in Frage stellen können, ob das Leben eines Nahrungslieferanten auch nur annähernd soviel wert sein kann wie das Leben eines Dhiacheill."
Einige Anatca nickten zustimmend und Lacyi fühlte sich plötzlich zu einem reinen Beutetier degradiert. Sie stellte sich auf einmal vor, wie alle Anatca hier beschlossen, sie wäre einfach nur Nahrung und dann gemeinsam über sie herfielen, um ihr Blut zu trinken. Schutzsuchend presste sie sich an Rhal. Der Anatca legte einen Arm um sie und bemühte sich um ein beruhigendes Lächeln. Dann wandte er sich an die anderen Anatca: "Auch wenn mich im Moment Lhinnoath vertritt bin ich immer noch der Bethoun. Und das heißt, dass noch immer ich es bin, der dafür zu sorgen hat, dass das göttliche Prinzip gewahrt wird. Ihr alle wisst, was das göttliche Prinzip besagt: Dass jedes Lebewesen vom Göttlichen beseelt ist und das wiederum stellt alle Lebewesen auf die gleiche Stufe. Das göttliche Prinzip verbietet uns das grundlose Töten jedes Lebewesens, und da zählen Menschen ebenso dazu wie wir Dhiacheill. Ich habe Veidhim nicht grundlos getötet. Ich habe ihn getötet, um ein Leben zu retten. Man könnte jetzt sagen, dass Veidhim Lacyi ebenfalls nicht grundlos getötet hätte, weil er es getan hätte, um an Nahrung zu kommen und das wäre dann gerechtfertigt. Aber Lacyi steht unter dem Schutz des ailgh und ist somit unantastbar. Indem Veidhim das missachtet hat, hat er gegen das göttliche Prinzip verstoßen."
Wieder erhob sich ein aufgeregtes Stimmengemurmel, aber Lacyi hatte das Gefühl, dass die Blicke, die man ihr zuwarf, nun weniger feindselig waren.
"Was Rhal sagt stimmt", meldete Ghulid sich schließlich zu Wort. "Aber trotzdem wäre es nicht nötig gewesen Vedhim zu töten. Es hätte auch gereicht, wenn er ihn leicht verletzt und dann eine Versammlung einberufen hätte, um über sein Verhalten zu entscheiden."
"Ich weiß", entgegnete Rhal leise. "Ich habe einen Fehler gemacht und das tut mir sehr Leid. Ich wollte Veidhim nicht töten, aber ich habe einfach gehandelt ohne lange nachzudenken. Wenn es mir möglich wäre würde ich es rückgängig machen."
Lacyi verstand nicht, weshalb er das sagte. Das war so viel wie ein Schuldgeständnis. Weshalb hatte er nicht einfach gesagt, er hatte nicht anders gekonnt als Veidhim zu töten?
"Also gut", sagte Lhinnoath schließlich, "wir werden jetzt darüber entscheiden, was mit dir geschehen soll, Rhaleach. Würdet ihr zwei bitte in der Haupthöhle warten, bis wir euch rufen?"

XIV

Lacyi hatte das Gefühl, die Anatca würden sich mit ihrer Entscheidung ewig Zeit lassen. Sie saß mit Rhal in der großen Höhle am Rand des Brunnens und wartete. Niemand von ihnen hatte Lust zu reden und so saßen sie schweigend da. Nach einer Weile stand Rhal auf und näherte sich dem toten Körper Veidhims. Langsam kniete er neben ihm nieder und sagte leise etwas in der alten Sprache der Anatca. Dann senkte er den Kopf und blieb regungslos bei Veidhim sitzen. Lacyi sah unsicher zu ihm hin, aber schließlich stand auch sie auf und näherte sich ihm. Zögernd sah sie auf Veidhim hinab, dessen Gesicht nun bleich war ohne den silbrigen Schimmer und der auf einmal beinahe menschlich aussah. Rhal erhob sich, trat auf sie zu und legte die Arme um sie. Als er seinen Kopf zu ihr hinabneigte spürte sie seine Wange an der ihren - und etwas Feuchtes. Sie löste sich halb von ihm, um ihn anzusehen und sah eine Träne über seine Wange laufen.
"Aber Anatca können nicht weinen", flüsterte sie irritiert.
"Sie können auch nicht lieben und hassen, aber ich schon", stellte Rhal mit einem traurigen Lächeln fest. "Wahrscheinlich ist Veidhim der erste Dhiacheill, der je von einem anderen betrauert wurde - und dann auch noch von demjenigen, der ihn umgebracht hat. Ich kannte ihn schon so lange - über 200 Jahre." Er lächelte kurz, als er Lacyis ungläubigen Blick bemerkte. "Veidhim war nur ein wenig älter als ich, wir sind zusammen aufgewachsen. Und trotzdem habe ich ihn getötet, um dich zu retten. Ich hätte nie gedacht, dass ich imstande wäre so etwas zu tun." Er sah Lacyi an und plötzlich verhärtete sich sein Blick. "Aber ich hätte auch nicht gedacht, dass er es wagen würde das Gesetz des ailgh zu missachten."
"Von ihm hätte ich das auch nicht gedacht, aber ich habe geahnt, dass das früher oder später jemand tun würde", sagte eine Stimme hinter ihnen und sie fuhren auseinander. Shorga betrachtete sie mit einem unergründlichen Blick. "Ich habe gesagt, dass sie hier verschwinden soll. Ich wusste, dass sonst ein Unglück geschehen würde. Aber ihr habt beide nicht auf mich gehört."
Lacyi senkte verlegen den Kopf und wich damit Shorgas Blick aus. Im Grunde hatte Rhals Mutter ja Recht - sie hätten auf sie hören sollen, dann wäre es nicht so weit gekommen.
"Kommt mit, sie haben sich entschieden."
Rhal griff nach Lacyis Hand und sie folgten Shorga zurück zu der Versammlungshöhle. Lhinnoath, die gerade mit einigen anderen Anatca in eine heftige Diskussion verstrickt war, brach ab als sie die beiden sah und ging langsam auf sie zu. "Die Entscheidung ist gefallen", sagte sie laut. "Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass du, Rhaleach, nicht verbannt wirst, denn du hast Veidhim nur getötet, um damit ein anderes Leben zu retten. Allerdings bist du von nun an nicht mehr der Bethoun und wirst es auch nie wieder sein."
Rhal atmete erleichtert auf und Lacyi spürte, wie ein Teil der großen Anspannung von ihr abfiel. Sie hatten Rhal nicht verbannt - nun würde alles wieder gut werden.
"Was nun dich betrifft, Lacyi", fuhr Lhinnoath fort, "sind wir uns alle einig, dass du diese Höhle sofort verlassen musst und Rhal nie wieder sehen darfst. Das Problem ist aber, dass du mittlerweile zuviel über uns weißt und dieses Wissen ist gefährlich für uns. Du könntest anderen Menschen verraten, wie wir wirklich sind und wo sie unsere Höhle finden können."
"Aber das würde ich niemals tun!", rief Lacyi erschrocken.
"Wir können uns nicht auf dein Wort verlassen. Wir können dich aber auch nicht töten, weil dich das ailgh schützt und so bleibt uns nichts anderes übrig, als in deinen Geist einzudringen und dir die Erinnerung an die Zeit hier zu nehmen."
Lacyi wusste nicht so recht, was sie von diesen Worten zu halten hatte und überlegte, ob das nicht sogar ganz gut wäre. Wenn sie Rhal nicht mehr sehen durfte wäre es vielleicht besser, wenn ihr die Erinnerung an ihn genommen würde. Aber Rhal zuckte zusammen und in seinen Katzenaugen konnte Lacyi Entsetzen erkennen.
"Das könnt ihr nicht machen!" Er schrie die anderen beinahe an. "Ihr wisst doch, was es bedeutet, den Geist eines anderen zu manipulieren. Ihr würdet sie zerbrechen, sie zu einem seelenlosen Menschen machen!"
Lacyi sah ihn erschrocken an und fragte sich, ob das wohl stimmte. Sie wollte nicht seelenlos werden - da wäre sie lieber gleich tot.
"Wir tun das nicht gern, Rhal, aber es bleibt uns nichts anderes übrig", sagte Lhinnoath ruhig. "Du musst das verstehen. Wir haben leider keine andere Wahl."
"Das könnt ihr nicht machen", wiederholte Rhal leise.
"Es muss sein." Lhinnoath ging auf Lacyi zu und lächelte sie beruhigend an. "Hab keine Angst, es wird dir nicht weh tun."
Unsicher sah Lacyi zuerst sie an, dann wandte sie ihren Blick wieder Rhal zu, der sie verzweifelt ansah. Er schien fieberhaft zu überlegen, was er machen könnte.
Lhinnoath stand jetzt dicht vor Lacyi und streckte eine Hand aus um sie an der Schläfe zu berühren.
"Nein, warte!" Lhinnoath hielt inne und sah Rhal fragend an. "Sie wird sich nachher nicht an mich erinnern können und ich möchte mich wenigstens noch von ihr verabschieden."
Die Führerin der Höhle seufzte, dann trat sie einen Schritt zurück. Rhal wandte sich Lacyi zu und strich ihr mit einer Hand über die Wange. Dann lächelte er traurig und umarmte sie so fest, dass sie kaum noch Luft bekam. "Es tut mir Leid", flüsterte er dicht an ihrem Ohr. "Ich kann nicht zulassen, dass Lhinnoath das tut. Du würdest leer und gefühllos werden und das ist noch schlimmer als der Tod. Bitte verzeih mir, Lacyi."
Ehe sie ganz begreifen konnte, was er meinte, beugte er den Kopf hinab und küsste sie auf den Hals. Lacyi lächelte, aber im nächsten Moment wandelte sich die sanfte Berührung in einen brennenden Schmerz. Zuerst wollte sie schreien und sich wehren, doch dann legte sie die Arme um Rhal und ließ zu, dass er das Leben aus ihr heraussaugte. Es war, als würde sich ein Schleier über ihre Gedanken und ihr Empfinden legen und sie nahm keinen Schmerz mehr wahr und keine Angst sondern nur noch Rhals Nähe.


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