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Flüsternde Stimmen

Dieser fürchterliche, penetrante Geruch von Rosen! Eben war ich noch dicht an Tiona herangerückt um besser sehen zu können, aber nun ging ich wieder ein wenig auf Distanz. Warum roch sie immer so nach Rosen? Ich hasste den Geruch von Rosen. Typisch Mädchen, sich für eine solche Unternehmung mit Rosenöl einzureiben. Ich rümpfte die Nase in der Hoffnung Tiona würde es merken und den Wink verstehen, aber sie sah mich gar nicht an und so konzentrierte ich mich wieder auf das Geschehen vor mir. Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht auf den anderen Ellbogen, aber obwohl ich versuchte leise zu sein verursachte ich doch ein Rascheln.
Tiona, die mir schon seit einer Weile wie eine Statue erschien, so still lag sie neben mir, wandte mir jetzt das Gesicht zu und sah mich vorwurfsvoll an. Ich wich ihrem Blick aus und spähte wieder durch die Zweige auf die Lichtung. Allmählich begann ich mich albern zu fühlen. Warum mussten wir unbedingt leise sein und uns verstecken? Wer sollte uns schon sehen? Und wenn - es war doch egal. Wie lange waren wir nun schon hier? Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Mein ganzer Körper schmerzte von der verkrampften, reglosen Stellung und meine Stimmung war mittlerweile an einem Tiefpunkt angelangt. Tiona hingegen schien immer noch genauso fasziniert wie am Anfang. Sie starrte auf das verfallene Anwesen auf der Lichtung und auf den Schatten, der von Zeit zu Zeit hinter einem der Fenster auftauchte. Schließlich stand sie auf. "Los, sehen wir es uns genauer an." Sie machte sich nicht die Mühe ihre Stimme zu senken und dabei hatte sie mich doch vor wenigen Minuten empört angesehen, nur weil die Zweige geraschelt hatten.
Noch ehe ich die Möglichkeit hatte zu reagieren ging Tiona schon zielstrebig auf das Haus zu. In letzter Zeit irritierte sie mich laufend. Was war nur aus der schüchternen, ängstlichen Sklavin geworden? Wie war es möglich, dass sie sich jetzt so gelassen und mutig verhielt? Aber sie war jetzt eine Freie, keine Sklavin mehr und das schien alles zu verändern.
Tiona blieb stehen und sah ungeduldig zu mir zurück. "Komm schon!"
Rasch sprang ich auf und folgte ihr. Das alte Haus schien umso unheimlicher zu werden umso näher wir darauf zugingen. Mein Herz pochte wie verrückt und ich rieb mit den schwitzenden Handflächen über meine Tunika. Wieso zeigte Tiona überhaupt keine Angst, während ich am liebsten auf der Stelle umgedreht wäre? Sie war ein Mädchen und Mädchen hatten doch immer Angst, vor jeder Kleinigkeit - vor Spinnen, vor dunklen Wäldern und vor wilden Tieren. Irgendwie fügte Tiona sich nicht in dieses Bild.
Hinter einem der Fenster tauchte der Schatten wieder auf und Tiona blieb so abrupt stehen, dass ich gegen sie prallte - was mir natürlich wieder einen vorwurfsvollen Blick einbrachte. Ich hoffte, dass sie nun doch den Mut verlieren und umkehren würde, aber nach kurzem Zögern ging sie weiter. Die Mühle ragte bedrohlich über uns auf, die Flügel bewegten sich leicht im Wind und knarrten dabei Furcht einflößend.
Tiona bewegte sich geradewegs auf den Vorhof des Anwesens zu.
"Warte!"
"Was ist?"
"Du willst doch da nicht wirklich hineingehen, oder?"
"Natürlich will ich das. Du nicht?" Tiona grinste spöttisch. "Hast du etwa Angst, Lechyce?"
"Nein, ich habe keine Angst!" Ich sah sie wütend an, aber ihr spöttisches Grinsen verstärkte sich nur noch. Sie hatte mich wohl durchschaut. Es war nicht leicht ihr etwas vorzumachen, denn während ihrer Zeit als Sklavin hatte sie sich zu einer guten Menschenkennerin entwickelt - sie hatte mir selbst erzählt, dass das nötig gewesen war um die Launen ihres Herrn einschätzen zu können.
Wir näherten uns der Tür des Haupthauses, Tiona mit sicheren, energischen Schritten, ich ein wenig zögernd. Wieder bewegten sich die Flügel der Mühle mit einem lauten Knarren. Ich warf einen nervösen Blick nach oben und hoffte bloß, das verfallene alte Gebäude möge nicht ausgerechnet jetzt zusammenbrechen. Tiona war inzwischen schon bei der Tür angekommen und drehte sich zu mir um. "Le, wo bleibst du denn?"
Ich beeilte mich zu ihr zu kommen und wir sahen zuerst beide auf die Tür, dann wechselten wir einen raschen Blick. "Du zuerst", meinte Tiona und jetzt verriet ihre Stimme doch eine leichte Nervosität.
Ich wollte schon fragen, weshalb ich, wo doch sie darauf bestanden hatte hierher zu kommen, aber das war wahrscheinlich meine letzte Chance zu beweisen, dass ich doch kein Feigling war. Ein herausfordernder Blick zu Tiona, dann trat ich einen Schritt vor und drückte mit einer Hand gegen die Tür. Sie schwang mit einem wenig vertrauenerweckenden Geräusch nach innen auf. Langsam betrat ich das Haus. Drinnen war es dämmrig und kühl. Ich konnte kaum etwas erkennen.
Tiona, die anscheinend ihren Mut wieder gefunden hatte, schob sich neugierig an mir vorbei. "Da ist ja gar nichts", stellte sie enttäuscht fest.
"Sei froh! Ich bin nicht allzu scharf darauf einem Geist zu begegnen. Und falls hier wirklich Anatca leben…."
"Sei doch nicht albern!", entgegnete Tiona scharf. "Es gibt keine Geister und schon gar keine Anatca, außer in Mythen und Märchen. Du benimmst dich wirklich wie ein kleines Kind!"
Ich hasste es, wenn sie sich so überheblich verhielt. Mein Vater hatte immer geschimpft, die Dunai wären arrogant und in diesem Moment war ich versucht ihm zuzustimmen. Tiona schien meinen Ärger zu bemerken, denn sie sagte etwas freundlicher: "Hier sind keine Geister. Was die Leute gehört haben werden nur Tiere sein."
"Und was ist mit dem Schatten, den wir hinter dem Fenster gesehen haben?"
Einen Moment lang schwieg Tiona. "Bestimmt nur ein Vogel, der sich hereinverirrt hat", meinte sie schließlich, aber ihre Stimme klang nicht mehr so überzeugt wie vorher. "Komm jetzt, wir sind schließlich hier um den Schatz zu finden."
Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich diesen Schatz wirklich finden wollte. So viele Abenteurer waren schon von Ayeni aufgebrochen um ihn zu suchen und waren nie wieder in die Stadt zurückgekehrt. Ich wollte gern reich sein, aber ich hing auch an meinem Leben. Andererseits hatte ich diese Abenteurer immer bewundert für ihren Mut und ich wünschte mir die Leute würden eines Tages von mir sprechen, als wäre ich ein Held. Es wäre so schön, wenn sie meinen Mut bewundern würden. Genau genommen war ich nicht hier um reich zu werden sondern um Ruhm und Ehre zu erlangen, Gedanken, die Tiona fremd waren. Sie wollte nur das Geld um ihre beiden Geschwister freikaufen zu können.
"Jetzt komm doch!" Tiona war bereits tiefer in das Haus hineingegangen. Wir befanden uns auf einem langen Gang mit Türen zu beiden Seiten. Die Tür schwang mit einem lauten Knarren zu und wir standen plötzlich im Stockdunkeln da. Ich drehte mich von panischer Angst erfüllt um und riss die Tür wieder auf. Mein Herz pochte wie wild und mir war heiß geworden.
"Wir zünden wohl besser die Lampe an, damit uns so etwas nicht mehr passiert", schlug Tiona vor. Ich holte rasch die Öllampe, die Feuersteine und das trockene Gras zum Anzünden des Dochtes aus meinem Rucksack. Als das Licht schließlich brannte fühlte ich mich um einiges besser.
"Gut, gehen wir weiter. Irgendwo muss eine Treppe nach oben sein und dort finden wir die Geheimtür zu dem Gang."
Wir gingen langsam den Gang entlang. Plötzlich hörte ich ein Geräusch, das wie ein Flüstern klang. "Was war das?"
"Was soll gewesen sein? Bestimmt nur der Wind." Tiona packte mich am Oberarm und zog mich weiter. "Jetzt mach dich doch nicht verrückt, Le. Es ist nichts."
Aber ich wusste, dass ich tatsächlich etwas gehört hatte und dass es auf keinen Fall der Wind gewesen war. Ich wusste auch, dass wir einen großen Fehler begingen. Wir hätten nie in dieses Haus gehen sollen.
"Da ist die Treppe!" Tiona rannte begeistert los und ich beeilte mich ihr zu folgen.
"Und wo soll nun diese Tür sein?"
Tiona tastete zuerst die Holztreppe ab und dann den Boden. "Gib mir mal die Lampe."
Ich reichte ihr die Öllampe und sie leuchtete den Boden ab. "Da! Ich hab die Tür gefunden!"
Zögernd kam ich näher und betrachtete die Falltür am Boden. Plötzlich hörte ich wieder ein Flüstern hinter mir und fuhr erschrocken herum. Der Gang war dunkel, aber doch hell genug um zu erkennen, dass hinter mir niemand war. Anscheinend hatte Tiona das Flüstern auch diesmal nicht gehört, denn sie war völlig darauf konzentriert, die Falltür aufzumachen. Endlich gelang es ihr und wir sahen einen finsteren Raum etwa sieben Fuß unter uns. Eine ziemlich instabil wirkende Holzleiter führte nach unten.
"Also dann los", meinte Tiona forsch.
Ich sah sie ungläubig an. "Du willst doch wohl nicht da hinunter?"
"Natürlich, dazu sind wir ja schließlich hier."
"Nein, auf keinen Fall. Wir werden nicht da hinunter gehen."
"Ach, jetzt sei doch nicht so ein Feigling!"
Ich konnte weder die Verachtung in ihrer Stimme ertragen noch die Behauptung, ich wäre ein Feigling. Entschlossen griff ich nach der Lampe und setzte einen Fuß auf die erste Leitersprosse.
"Nein, warte, so geht das nicht. Gib mir die Lampe und klettere hinunter. Dann geb' ich dir die Lampe und komme nach."
Der Gedanke, dass ich ohne Licht da hinunter musste gefiel mir nicht, aber Tiona hatte Recht. Ich brauchte beide Hände um mich an der Leiter festzuhalten. Ich gab ihr die Lampe und begann vorsichtig hinunter zu steigen. Die Sprossen der Leiter knarrten - hoffentlich würden sie mich aushalten. Es war gruselig, nicht zu sehen, wohin man seine Füße setzte. Ich tastete mich eine weitere Sprosse nach unten und noch eine. Dann fühlte ich festen Boden unter meinen Füßen.
"Ich bin unten. Jetzt gib mir die Lampe!" Ich streckte meine Arme nach oben und bekam die Lampe zu fassen. Ich riss sie Tiona beinahe aus der Hand, so versessen war ich auf die schwache Lichtquelle. Während Tiona auf der Leiter nach unten kletterte schwenkte ich die Lampe um zu sehen, wo wir hier gelandet waren. Es war ein kleiner Raum, von dem an zwei Seiten schmale Gänge wegführten.
"Welchen Gang sollen wir gehen?", fragte Tiona mich.
Ich zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Du bist ja diejenige, die sich so gut auskennt."
Tiona sah mich einen Moment lang schweigend an, dann riss sie mir die Lampe aus der Hand und betrat den Gang zu unserer Linken. Wenn ich nicht allein im Dunkeln stehen bleiben wollte hatte ich keine andere Wahl als ihr zu folgen. Es gefiel mir nicht, dass sie jetzt die Lampe trug.

Wir gingen langsam den Gang entlang. Er war gerade hoch genug, dass ich den Kopf nicht einziehen musste und nicht viel mehr als zwei Fuß breit. Immer wieder streifte ich mit den Schultern an den Seitenwänden. Die Luft war feucht und stickig, das Atmen war mühsam. Ich bemühte mich die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Wenn nun hinter uns der Gang einstürzte und wir für immer hier gefangen waren? Wenn das Licht ausging und wir im Stockdunkeln standen? Wenn es doch Geister hier gab?
Es schien mir, als gingen wir eine halbe Ewigkeit durch dieses System verzweigter Gänge unter der Erde. Ab und zu hatte Tiona eine Abzweigung nach links genommen, dann wieder nach rechts und ich konnte nur hoffen, dass sie wusste, wohin wir gingen und wie wir wieder zurück zum Ausgang kommen sollte. Ich selbst hatte schon längst die Orientierung verloren.
Schließlich blieb Tiona stehen. "Eigentlich müssten wir schon zum Schatz gekommen sein."
"Sind wir aber nicht."
"Ja, das ist mir auch aufgefallen", gab Tiona bissig zurück. "Aber er müsste hier irgendwo sein."
Ich überlegte hin und her zwischen dem Wunsch Ruhm und Ehre zu erlangen und dem Wunsch endlich wieder Tageslicht zu sehen und frische Luft zu atmen. "Lassen wir es doch einfach bleiben", meinte ich nach einer Weile. "Wir werden uns hier unten nur verirren. Wahrscheinlich gibt es gar keinen Schatz."
"Doch, es gibt ihn!" Tiona schrie mich beinahe an und ich wich verdutzt einen Schritt zurück. Warum regte sie sich denn so auf? "Wenn du zu feige bist um weiterzugehen - gut. Dann kehr um und ich gehe alleine weiter!"
"Erstens haben wir nur eine Lampe und zweitens werde ich dich bestimmt nicht alleine hier unten lassen. Es hat doch keinen Sinn, Tiona. Wir werden den Schatz niemals finden."
Tiona kam näher. "Ich muss den Schatz finden", sagte sie leise. "Ich brauche das Geld."
"Selbst wenn du ihm einen ganzen Sack Gold anbietest wird Recwa Amon nicht freilassen, das weißt du doch. Amon ist ein zu guter Gladiator. Recwa geht es nicht um das Geld, es geht ihm nur um den Ruhm, um den Ruhm, den Amon ihm verschafft."
Tiona sagte nichts, sie schüttelte nur den Kopf, aber sie wusste, dass ich Recht hatte. Schließlich drehte sie sich um und ging weiter. "Ich werde den Schatz finden und damit werde ich Amon freikaufen."
Ich seufzte und folgte ihr, denn was hätte ich auch anderes tun sollen. Aber ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache.
Und dann ging plötzlich das Licht aus. Sofort war es stockdunkel, ich konnte absolut nichts erkennen. "Lechyce?" Tionas Stimme klang ängstlich.
Für einen Moment lang wusste ich nicht einmal, aus welcher Richtung ihre Stimme kam. Alles, was ich wahrnahm war die Dunkelheit. Völlige Schwärze. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als würde der Gang enger werden, als würde die Luft nicht mehr zum Atmen ausreichen.
"Lechyce! Wo bist du?"
Ich musste mich räuspern, ehe ich überhaupt imstande war ein Wort hervorzubringen. "Ich bin hier."
Ich streckte einen Arm aus und tastete nach Tiona, griff aber nur in die Leere. Dann spürte ich eine Berührung an meinem anderen Arm und gleich darauf schlossen sich schmale Finger um mein Handgelenk. "Lechyce?"
"Ja, wer sonst. Was ist mit der Lampe?"
"Ich weiß nicht." Aus Tionas Stimme war jedes bisschen Selbstsicherheit gewichen. "Auf einmal ist sie ausgegangen. Wo sind die Feuersteine?"
Mit zitternden Fingern kramte ich in meinem Rucksack und atmete erleichtert auf, als ich die glatten, kalten Steine in meiner Hand fühlte. Ich zog sie heraus und tastete dann nach dem Gras, das ich glücklicherweise sofort fand. Ich kniete mich auf den Boden, legte das trockene Gras auf den Boden und schlug die Feuersteine zusammen. Ein Funke glühte auf und erlosch. Hastig versuchte ich es noch einmal. Diesmal sprang der Funke auf das Gras, das ich sofort an den Docht hielt. Nichts geschah.
"Was ist?" Tionas Finger gruben sich in den Stoff meiner Tunika. "Das Öl kann doch noch nicht aus sein, oder? Le, warum brennt der Docht nicht?"
"Ich weiß es nicht!", schrie ich sie entnervt an.
"Versuch es noch einmal! Los, versuch es! Die Lampe muss doch noch brennen! Versuch es!"
Ich hielt das brennende Gras solange an den Docht, bis ich die Flamme an meinem Finger spürte. Mit einem Schmerzensschrei ließ ich das Gras zu Boden fallen, wo es verglühte. Erneut war es stockdunkel.
"Nein", flüsterte Tiona. "Nein!"
Sie presste sich an mich und ich legte einen Arm um sie. Ich hatte mir das immer gewünscht: Sie im Arm zu halten und der mutige Held zu sein. Aber von Mut war keine Spur mehr und ich fühlte mich nicht einmal annähernd wie ein Held. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen in der Hoffnung, die Dunkelheit würde verschwunden sein, wenn ich sie wieder öffnete. Doch es war nicht so.
"Wir müssen zurück."
"Wie sollen wir denn den Weg finden ohne Licht?" Tionas Stimme klang verzweifelt.
"Wir tasten uns einfach am Gang entlang und gehen den gleichen Weg zurück, den wir gekommen sind." Ich wünschte mir, es wäre wirklich so einfach, wie es klang. Aber ich wusste, dass ich den Weg nicht finden würde. Nicht mit Licht und ohne schon gar nicht. Würde Tiona ihn finden?
Wir standen beide auf. Tiona holte tief Luft, dann griff sie nach meiner Hand und ging los. "Gut, versuchen wir es."
Mit meiner freien Hand tastete ich mich an der Seitenwand entlang. Der Boden kam mir auf einmal viel unebener vor. Es war schrecklich im Stockdunkeln. Ich hatte ständig das Gefühl, wir würden gleich gegen eine Wand laufen.
Wir gingen lange, ewig wie es mir schien. Ich hielt diese erdrückende Schwärze nicht mehr aus. Es gab keinen Anhaltpunkt für die Augen, nichts, was man ansehen konnte, nichts, woran man seinen Blick festhalten konnte. Es gab nichts außer der Dunkelheit. Wenn ich nicht den festen Druck von Tionas Hand gespürt hätte wäre ich wahrscheinlich wahnsinnig geworden.
"Ich habe Durst", sagte sie plötzlich leise.
Ich blieb stehen und holte den Wasserschlauch aus meinem Rucksack. Wir tranken beide ein paar Schlucke, dann gingen wir weiter. Wusste Tiona noch, welchen Weg wir gehen mussten?
Weiter und weiter gingen wir und noch immer waren wir nicht bei dem Raum mit dem Ausgang angekommen. In der zeitlosen Schwärze hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Vielleicht waren erst drei Stunden vergangen, seit wir die Leiter hinunter gestiegen waren, vielleicht aber auch zehn. Ich wusste es nicht.
"Vielleicht sollten wir uns einen Moment ausruhen."
"Ja, aber nur kurz", entgegnete Tiona mit bemüht gleichgültiger Stimme.
Wir ließen uns nieder und lehnten uns mit dem Rücken gegen die Wand. Das Gefühl, die Wände würden immer enger werden und auf uns zukommen wurde stärker. Vielleicht waren wir hier unten für immer gefangen. Plötzlich schlang Tiona beide Arme um mich. "Ich habe Angst", flüsterte sie dicht an meinem Ohr. Wenn sie das zugab, dann musste sie tatsächlich große Angst haben. Ich ahnte, dass sie sich jetzt Stärke von mir wünschte, etwas, woran sich ihre Hoffnung festklammern konnte, aber ich war nicht imstande irgendwelche beruhigenden Sprüche von mir zu geben. "Ich auch."
"Ja, ich weiß." Tiona blieb noch einen Atemzug lang so dicht bei mir sitzen, dann ließ sie mich los und lehnte sich zurück an die Wand. Minuten verstrichen, ohne dass ein Wort zwischen uns fiel. Dann spürte ich eine sanfte Berührung an meinem Oberarm. Kühle Finger strichen über meinen Arm, über meine Schulter und glitten dann unter meine Tunika. In jedem anderen Moment wäre ich überglücklich gewesen, aber jetzt schüttelte ich verwirrt den Kopf. Die Finger streichelten meine Haut, sanft, verlockend und mir blieb fast die Luft weg.
Dann riss ich mich zusammen, wir mussten vernünftig sein. "Tiona, nicht, hör auf."
"Womit soll ich aufhören?" Ihre Stimme klang ehrlich überrascht.
"Hör auf mich…. Tiona, hast du mich eben berührt?"
"Nein." Sie sprach die Wahrheit, ich wusste, dass sie die Wahrheit sprach. Und erst jetzt wurde mir bewusst, dass sie links von mir saß und die Berührung von rechts gekommen war. Jetzt blieb mir erneut die Luft weg, aber diesmal vor Panik, nicht vor Erregung. Ich fühlte ein Grauen, wie ich es noch nie gefühlt hatte. Mit einem Aufkeuchen tastete ich über den Boden und die Wand rechts neben mir, aber da war nichts.
"Le, was hast du?"
"Da ist jemand! Jemand hat mich berührt! Wir sind hier nicht allein!"
Tiona packte meinen Arm, ihre Finger gruben sich in meine Haut. "Was soll das heißen?"
"Das soll genau das heißen, was ich eben gesagt habe. Außer uns muss hier noch jemand sein!"
"Nein! Das glaube ich nicht! Nein, du hast dir das eingebildet!"
"Das war keine Einbildung." Mir war so heiß, dass ich mir am liebsten die Tunika vom Leib gerissen hätte, aber gleichzeitig hatte ich eine Gänsehaut und zitterte am ganzen Körper.
Und dann sprang Tiona plötzlich auf und rannte los.
"Tiona! Nein, Tiona, warte!" Ich kam hastig auf die Beine und folgte ihr. Die Schritte klangen bereits so, als ob sie weit entfernt wären. "TIONA!"
Ich folgte dem Klang ihrer Schritte und schrie immer wieder ihren Namen, aber sie blieb nicht stehen. Und dann hörte ich auf einmal Schritte hinter mir. Irgendjemand verfolgte mich! Ich stolperte über eine kleine Erhebung, fiel auf die Knie, rappelte mich auf und rannte weiter. Lauf, lauf, lauf, war alles, was ich denken konnte. Ich konnte kaum noch atmen, die Luft schien noch stickiger zu werden, falls das überhaupt noch möglich war.
Und dann stieß ich plötzlich gegen jemanden und dieser Jemand schrie erschrocken auf. "Tiona?"
Statt einer Antwort tastete eine zitternde Hand nach mir und umklammerte dann meinen Arm.
"Warum bist du einfach weggelaufen? Wenn wir hier wieder raus wollen müssen wir wenigstens zusammenbleiben." Ich bemühte mich meiner Stimme einen einigermaßen festen Klang zu verleihen, was mir aber gründlich misslang.
"Es tut mir leid, ich… Ich bekam solche Angst, als du gesagt hast, hier wäre noch jemand und dann hatte ich das Gefühl, als würde jemand nach mir greifen. Entschuldige, dass ich so in Panik geraten bin."
Erst jetzt fiel mir auf, dass die Schritte hinter mir verklungen waren. Kurz überlegte ich, ob ich Tiona davon erzählen sollte, aber dann ließ ich es bleiben. Wozu sie unnötig ängstigen, wenn doch jetzt nichts mehr zu hören war? Wer auch immer noch hier unten war, wir hatten ihn - oder sie - vermutlich abgehängt.
"Hast du noch eine Ahnung, wo wir sind und wo wir hin müssen?"
Pause. "Nein."
Ich hatte diese Antwort erwartet. "Und was jetzt?"
"Vielleicht sollten wir einfach weitergehen und hoffen, dass wir irgendwann zu einem Ausgang kommen."
Also gingen wir wieder los. Der Boden war so uneben, dass wir fast bei jedem zweiten Schritt stolperten. Aus diesem Grund war ich so auf das Gehen konzentriert, dass es mir zunächst gar nicht auffiel. Aber dann wurde mir auf einmal klar, was mich so beunruhigte. "Wir gehen bergab."
"Was?"
"Wir gehen bergab", wiederholte ich. "Das kann nicht der richtige Weg sein. Wenn wir so weitergehen kommen wir nur noch tiefer unter die Erde."
Tiona ging noch ein paar Schritte weiter, dann blieb sie stehen. "Du hast Recht. Der Weg führt tatsächlich bergab. Wir müssen umkehren."
Umkehren. Zurück in die Richtung, wo irgendjemand oder irgendetwas war und vielleicht auf uns wartete. Was hatte ich gehört und gespürt? Einen Geist, eine Anatca oder war es doch nur Einbildung gewesen?
Viel länger würde ich es hier unten nicht mehr aushalten. Nicht, ohne den Verstand zu verlieren und völlig wahnsinnig zu werden. Ich war mir schon nicht mehr sicher, ob es wirklich so dunkel hier war, oder ob ich vielleicht blind geworden war. Im Moment zumindest hatte ich das Gefühl, als könnten meine Augen nie wieder etwas anderes als Dunkelheit wahrnehmen. Und da hörte ich es wieder: ein leises Flüstern, ein wispernder Singsang.
"Da ist es wieder!"
"Da ist was wieder?", fragte Tiona erstaunt.
"Hörst du es nicht?"
"Was soll ich hören?"
"Das Flüstern!" Es war unmöglich, dass sie es nicht hörte. Das Geräusch war jetzt ganz nahe, nur ein paar Schritte von uns entfernt.
"Ich weiß nicht, was du meinst, Le. Ich höre nichts."
Bildete ich es mir etwa nur ein? Nein, das war nicht möglich. Ich hörte es doch ganz genau - das war keine Einbildung! Es kam näher und dann spürte ich einen kalten Hauch an meinem Gesicht, eine Berührung auf meinem Arm. Ich schrie und die Berührung verschwand. Dann war es ganz still.
"Tiona? Tiona!" Ich tastete mit meinen Händen dorthin, wo ich sie vermutete, aber da war niemand. Ich stolperte ein paar Schritte vorwärts, lauschte angestrengt. "Tiona!"
Sie war weg, aber ich hatte keine Schritte gehört und auch jetzt war es totenstill. Als ob sie sich einfach in Luft aufgelöst hätte. Ich stand alleine in Dunkeln. Die Angst schnürte mir die Kehle zu, ich konnte kaum noch atmen.
Und dann durchbrach ein Geräusch die unheimliche Stille: Ein Schrei, der schreckliche Schrei eines Menschen in Todesangst, eines Menschen, der weiß, dass er sterben wird. Der Schrei erstarb und es wurde wieder vollkommen still. Ich wich zurück und stieß gegen die Wand. "Tiona." Ich wollte eigentlich nach ihr schreien, aber alles, was ich hervorbrachte war ein heiseres Flüstern. Immer noch Stille. Totenstille.
Und dann wieder ein Geräusch: Schritte, die näher kamen, ein Flüstern und ein kalter Lufthauch. Ich drehte mich um und floh. Ich hörte, dass mir jemand folgte - oder etwas. Ich dachte erneut daran, was man so sagte: dass in unterirdischen Gängen Anatca lebten. Ich hatte nie an die Existenz dieses Volkes geglaubt, das sich von Blut ernährte, aber jetzt wäre das eine einleuchtende Erklärung gewesen. Anatca… Ich versuchte noch schneller zu laufen. Mein Herz pochte wie wild und ich bekam kaum noch Luft. Der Weg führte weiterhin bergab, die Umgebung wurde kälter.
Weiterlaufen, immer weiterlaufen. Da war eine Wurzel oder etwas Ähnliches am Boden, ich stolperte, fiel hin, wollte mich keuchend wieder aufrichten, aber da griff eine Hand nach mir und hielt mich fest. Wieder die flüsternde Stimme und ich konnte zwar nicht verstehen, was sie sagte, aber es klang irgendwie beruhigend. Und dann leuchteten vor mir zwei grüne Augen auf, helle strahlende Augen, als einziges Licht in der undurchdringlichen Dunkelheit….


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