Wir gingen langsam den Gang entlang. Er war gerade hoch genug, dass ich den Kopf nicht
einziehen musste und nicht viel mehr als zwei Fuß breit. Immer wieder streifte ich mit den
Schultern an den Seitenwänden. Die Luft war feucht und stickig, das Atmen war mühsam. Ich
bemühte mich die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Wenn nun hinter uns der Gang
einstürzte und wir für immer hier gefangen waren? Wenn das Licht ausging und wir im
Stockdunkeln standen? Wenn es doch Geister hier gab?
Es schien mir, als gingen wir eine halbe Ewigkeit durch dieses System verzweigter Gänge
unter der Erde. Ab und zu hatte Tiona eine Abzweigung nach links genommen, dann wieder nach
rechts und ich konnte nur hoffen, dass sie wusste, wohin wir gingen und wie wir wieder
zurück zum Ausgang kommen sollte. Ich selbst hatte schon längst die Orientierung verloren.
Schließlich blieb Tiona stehen. "Eigentlich müssten wir schon zum Schatz gekommen sein."
"Sind wir aber nicht."
"Ja, das ist mir auch aufgefallen", gab Tiona bissig zurück. "Aber er müsste hier irgendwo
sein."
Ich überlegte hin und her zwischen dem Wunsch Ruhm und Ehre zu erlangen und dem Wunsch
endlich wieder Tageslicht zu sehen und frische Luft zu atmen. "Lassen wir es doch einfach
bleiben", meinte ich nach einer Weile. "Wir werden uns hier unten nur verirren.
Wahrscheinlich gibt es gar keinen Schatz."
"Doch, es gibt ihn!" Tiona schrie mich beinahe an und ich wich verdutzt einen Schritt
zurück. Warum regte sie sich denn so auf? "Wenn du zu feige bist um weiterzugehen - gut.
Dann kehr um und ich gehe alleine weiter!"
"Erstens haben wir nur eine Lampe und zweitens werde ich dich bestimmt nicht alleine hier
unten lassen. Es hat doch keinen Sinn, Tiona. Wir werden den Schatz niemals finden."
Tiona kam näher. "Ich muss den Schatz finden", sagte sie leise. "Ich brauche das Geld."
"Selbst wenn du ihm einen ganzen Sack Gold anbietest wird Recwa Amon nicht freilassen, das
weißt du doch. Amon ist ein zu guter Gladiator. Recwa geht es nicht um das Geld, es geht
ihm nur um den Ruhm, um den Ruhm, den Amon ihm verschafft."
Tiona sagte nichts, sie schüttelte nur den Kopf, aber sie wusste, dass ich Recht hatte.
Schließlich drehte sie sich um und ging weiter. "Ich werde den Schatz finden und damit
werde ich Amon freikaufen."
Ich seufzte und folgte ihr, denn was hätte ich auch anderes tun sollen. Aber ich hatte
kein gutes Gefühl bei der Sache.
Und dann ging plötzlich das Licht aus. Sofort war es stockdunkel, ich konnte absolut nichts
erkennen.
"Lechyce?" Tionas Stimme klang ängstlich.
Für einen Moment lang wusste ich nicht einmal, aus welcher Richtung ihre Stimme kam. Alles,
was ich wahrnahm war die Dunkelheit. Völlige Schwärze. Plötzlich hatte ich das Gefühl,
als würde der Gang enger werden, als würde die Luft nicht mehr zum Atmen ausreichen.
"Lechyce! Wo bist du?"
Ich musste mich räuspern, ehe ich überhaupt imstande war ein Wort hervorzubringen. "Ich
bin hier."
Ich streckte einen Arm aus und tastete nach Tiona, griff aber nur in die Leere. Dann
spürte ich eine Berührung an meinem anderen Arm und gleich darauf schlossen sich schmale
Finger um mein Handgelenk. "Lechyce?"
"Ja, wer sonst. Was ist mit der Lampe?"
"Ich weiß nicht." Aus Tionas Stimme war jedes bisschen Selbstsicherheit gewichen. "Auf
einmal ist sie ausgegangen. Wo sind die Feuersteine?"
Mit zitternden Fingern kramte ich in meinem Rucksack und atmete erleichtert auf, als ich
die glatten, kalten Steine in meiner Hand fühlte. Ich zog sie heraus und tastete dann nach
dem Gras, das ich glücklicherweise sofort fand. Ich kniete mich auf den Boden, legte das
trockene Gras auf den Boden und schlug die Feuersteine zusammen. Ein Funke glühte auf und
erlosch. Hastig versuchte ich es noch einmal. Diesmal sprang der Funke auf das Gras, das
ich sofort an den Docht hielt. Nichts geschah.
"Was ist?" Tionas Finger gruben sich in den Stoff meiner Tunika. "Das Öl kann doch noch
nicht aus sein, oder? Le, warum brennt der Docht nicht?"
"Ich weiß es nicht!", schrie ich sie entnervt an.
"Versuch es noch einmal! Los, versuch es! Die Lampe muss doch noch brennen! Versuch es!"
Ich hielt das brennende Gras solange an den Docht, bis ich die Flamme an meinem Finger
spürte. Mit einem Schmerzensschrei ließ ich das Gras zu Boden fallen, wo es verglühte.
Erneut war es stockdunkel.
"Nein", flüsterte Tiona. "Nein!"
Sie presste sich an mich und ich legte einen Arm um sie. Ich hatte mir das immer gewünscht:
Sie im Arm zu halten und der mutige Held zu sein. Aber von Mut war keine Spur mehr und ich
fühlte mich nicht einmal annähernd wie ein Held. Für einen kurzen Moment schloss ich die
Augen in der Hoffnung, die Dunkelheit würde verschwunden sein, wenn ich sie wieder
öffnete. Doch es war nicht so.
"Wir müssen zurück."
"Wie sollen wir denn den Weg finden ohne Licht?" Tionas Stimme klang verzweifelt.
"Wir tasten uns einfach am Gang entlang und gehen den gleichen Weg zurück, den wir
gekommen sind." Ich wünschte mir, es wäre wirklich so einfach, wie es klang. Aber ich
wusste, dass ich den Weg nicht finden würde. Nicht mit Licht und ohne schon gar nicht.
Würde Tiona ihn finden?
Wir standen beide auf. Tiona holte tief Luft, dann griff sie nach meiner Hand und ging
los. "Gut, versuchen wir es."
Mit meiner freien Hand tastete ich mich an der Seitenwand entlang. Der Boden kam mir auf
einmal viel unebener vor. Es war schrecklich im Stockdunkeln. Ich hatte ständig das
Gefühl, wir würden gleich gegen eine Wand laufen.
Wir gingen lange, ewig wie es mir schien. Ich hielt diese erdrückende Schwärze nicht mehr
aus. Es gab keinen Anhaltpunkt für die Augen, nichts, was man ansehen konnte, nichts,
woran man seinen Blick festhalten konnte. Es gab nichts außer der Dunkelheit. Wenn ich
nicht den festen Druck von Tionas Hand gespürt hätte wäre ich wahrscheinlich wahnsinnig
geworden.
"Ich habe Durst", sagte sie plötzlich leise.
Ich blieb stehen und holte den Wasserschlauch aus meinem Rucksack. Wir tranken beide ein
paar Schlucke, dann gingen wir weiter. Wusste Tiona noch, welchen Weg wir gehen mussten?
Weiter und weiter gingen wir und noch immer waren wir nicht bei dem Raum mit dem Ausgang
angekommen. In der zeitlosen Schwärze hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Vielleicht
waren erst drei Stunden vergangen, seit wir die Leiter hinunter gestiegen waren, vielleicht
aber auch zehn. Ich wusste es nicht.
"Vielleicht sollten wir uns einen Moment ausruhen."
"Ja, aber nur kurz", entgegnete Tiona mit bemüht gleichgültiger Stimme.
Wir ließen uns nieder und lehnten uns mit dem Rücken gegen die Wand. Das Gefühl, die Wände
würden immer enger werden und auf uns zukommen wurde stärker. Vielleicht waren wir hier
unten für immer gefangen. Plötzlich schlang Tiona beide Arme um mich. "Ich habe Angst",
flüsterte sie dicht an meinem Ohr. Wenn sie das zugab, dann musste sie tatsächlich große
Angst haben.
Ich ahnte, dass sie sich jetzt Stärke von mir wünschte, etwas, woran sich ihre Hoffnung
festklammern konnte, aber ich war nicht imstande irgendwelche beruhigenden Sprüche von mir
zu geben. "Ich auch."
"Ja, ich weiß." Tiona blieb noch einen Atemzug lang so dicht bei mir sitzen, dann ließ sie
mich los und lehnte sich zurück an die Wand. Minuten verstrichen, ohne dass ein Wort
zwischen uns fiel. Dann spürte ich eine sanfte Berührung an meinem Oberarm. Kühle Finger
strichen über meinen Arm, über meine Schulter und glitten dann unter meine Tunika. In jedem
anderen Moment wäre ich überglücklich gewesen, aber jetzt schüttelte ich verwirrt den Kopf.
Die Finger streichelten meine Haut, sanft, verlockend und mir blieb fast die Luft weg.
Dann riss ich mich zusammen, wir mussten vernünftig sein. "Tiona, nicht, hör auf."
"Womit soll ich aufhören?" Ihre Stimme klang ehrlich überrascht.
"Hör auf mich…. Tiona, hast du mich eben berührt?"
"Nein." Sie sprach die Wahrheit, ich wusste, dass sie die Wahrheit sprach. Und erst jetzt
wurde mir bewusst, dass sie links von mir saß und die Berührung von rechts gekommen war.
Jetzt blieb mir erneut die Luft weg, aber diesmal vor Panik, nicht vor Erregung. Ich fühlte
ein Grauen, wie ich es noch nie gefühlt hatte. Mit einem Aufkeuchen tastete ich über den
Boden und die Wand rechts neben mir, aber da war nichts.
"Le, was hast du?"
"Da ist jemand! Jemand hat mich berührt! Wir sind hier nicht allein!"
Tiona packte meinen Arm, ihre Finger gruben sich in meine Haut. "Was soll das heißen?"
"Das soll genau das heißen, was ich eben gesagt habe. Außer uns muss hier noch jemand sein!"
"Nein! Das glaube ich nicht! Nein, du hast dir das eingebildet!"
"Das war keine Einbildung." Mir war so heiß, dass ich mir am liebsten die Tunika vom Leib
gerissen hätte, aber gleichzeitig hatte ich eine Gänsehaut und zitterte am ganzen Körper.
Und dann sprang Tiona plötzlich auf und rannte los.
"Tiona! Nein, Tiona, warte!" Ich kam hastig auf die Beine und folgte ihr. Die Schritte
klangen bereits so, als ob sie weit entfernt wären. "TIONA!"
Ich folgte dem Klang ihrer Schritte und schrie immer wieder ihren Namen, aber sie blieb
nicht stehen. Und dann hörte ich auf einmal Schritte hinter mir. Irgendjemand verfolgte
mich! Ich stolperte über eine kleine Erhebung, fiel auf die Knie, rappelte mich auf und
rannte weiter. Lauf, lauf, lauf, war alles, was ich denken konnte. Ich konnte kaum noch
atmen, die Luft schien noch stickiger zu werden, falls das überhaupt noch möglich war.
Und dann stieß ich plötzlich gegen jemanden und dieser Jemand schrie erschrocken auf.
"Tiona?"
Statt einer Antwort tastete eine zitternde Hand nach mir und umklammerte dann meinen Arm.
"Warum bist du einfach weggelaufen? Wenn wir hier wieder raus wollen müssen wir wenigstens
zusammenbleiben." Ich bemühte mich meiner Stimme einen einigermaßen festen Klang zu
verleihen, was mir aber gründlich misslang.
"Es tut mir leid, ich… Ich bekam solche Angst, als du gesagt hast, hier wäre noch jemand
und dann hatte ich das Gefühl, als würde jemand nach mir greifen. Entschuldige, dass ich so
in Panik geraten bin."
Erst jetzt fiel mir auf, dass die Schritte hinter mir verklungen waren. Kurz überlegte ich,
ob ich Tiona davon erzählen sollte, aber dann ließ ich es bleiben. Wozu sie unnötig
ängstigen, wenn doch jetzt nichts mehr zu hören war? Wer auch immer noch hier unten war,
wir hatten ihn - oder sie - vermutlich abgehängt.
"Hast du noch eine Ahnung, wo wir sind und wo wir hin müssen?"
Pause. "Nein."
Ich hatte diese Antwort erwartet. "Und was jetzt?"
"Vielleicht sollten wir einfach weitergehen und hoffen, dass wir irgendwann zu einem Ausgang
kommen."
Also gingen wir wieder los. Der Boden war so uneben, dass wir fast bei jedem zweiten
Schritt stolperten. Aus diesem Grund war ich so auf das Gehen konzentriert, dass es mir
zunächst gar nicht auffiel. Aber dann wurde mir auf einmal klar, was mich so beunruhigte.
"Wir gehen bergab."
"Was?"
"Wir gehen bergab", wiederholte ich. "Das kann nicht der richtige Weg sein. Wenn wir so
weitergehen kommen wir nur noch tiefer unter die Erde."
Tiona ging noch ein paar Schritte weiter, dann blieb sie stehen. "Du hast Recht. Der Weg
führt tatsächlich bergab. Wir müssen umkehren."
Umkehren. Zurück in die Richtung, wo irgendjemand oder irgendetwas war und vielleicht auf
uns wartete. Was hatte ich gehört und gespürt? Einen Geist, eine Anatca oder war es doch nur
Einbildung gewesen?
Viel länger würde ich es hier unten nicht mehr aushalten. Nicht, ohne den Verstand zu
verlieren und völlig wahnsinnig zu werden. Ich war mir schon nicht mehr sicher, ob es
wirklich so dunkel hier war, oder ob ich vielleicht blind geworden war. Im Moment zumindest
hatte ich das Gefühl, als könnten meine Augen nie wieder etwas anderes als Dunkelheit
wahrnehmen.
Und da hörte ich es wieder: ein leises Flüstern, ein wispernder Singsang.
"Da ist es wieder!"
"Da ist was wieder?", fragte Tiona erstaunt.
"Hörst du es nicht?"
"Was soll ich hören?"
"Das Flüstern!" Es war unmöglich, dass sie es nicht hörte. Das Geräusch war jetzt ganz
nahe, nur ein paar Schritte von uns entfernt.
"Ich weiß nicht, was du meinst, Le. Ich höre nichts."
Bildete ich es mir etwa nur ein? Nein, das war nicht möglich. Ich hörte es doch ganz
genau - das war keine Einbildung! Es kam näher und dann spürte ich einen kalten Hauch an
meinem Gesicht, eine Berührung auf meinem Arm. Ich schrie und die Berührung verschwand.
Dann war es ganz still.
"Tiona? Tiona!" Ich tastete mit meinen Händen dorthin, wo ich sie vermutete, aber da war
niemand. Ich stolperte ein paar Schritte vorwärts, lauschte angestrengt. "Tiona!"
Sie war weg, aber ich hatte keine Schritte gehört und auch jetzt war es totenstill. Als ob
sie sich einfach in Luft aufgelöst hätte. Ich stand alleine in Dunkeln. Die Angst schnürte
mir die Kehle zu, ich konnte kaum noch atmen.
Und dann durchbrach ein Geräusch die unheimliche Stille: Ein Schrei, der schreckliche
Schrei eines Menschen in Todesangst, eines Menschen, der weiß, dass er sterben wird. Der
Schrei erstarb und es wurde wieder vollkommen still. Ich wich zurück und stieß gegen die
Wand. "Tiona." Ich wollte eigentlich nach ihr schreien, aber alles, was ich hervorbrachte
war ein heiseres Flüstern. Immer noch Stille. Totenstille.
Und dann wieder ein Geräusch: Schritte, die näher kamen, ein Flüstern und ein kalter
Lufthauch. Ich drehte mich um und floh. Ich hörte, dass mir jemand folgte - oder etwas.
Ich dachte erneut daran, was man so sagte: dass in unterirdischen Gängen Anatca lebten.
Ich hatte nie an die Existenz dieses Volkes geglaubt, das sich von Blut ernährte, aber jetzt
wäre das eine einleuchtende Erklärung gewesen. Anatca… Ich versuchte noch schneller zu
laufen. Mein Herz pochte wie wild und ich bekam kaum noch Luft. Der Weg führte weiterhin
bergab, die Umgebung wurde kälter.
Weiterlaufen, immer weiterlaufen. Da war eine Wurzel oder etwas Ähnliches am Boden, ich
stolperte, fiel hin, wollte mich keuchend wieder aufrichten, aber da griff eine Hand nach
mir und hielt mich fest. Wieder die flüsternde Stimme und ich konnte zwar nicht verstehen,
was sie sagte, aber es klang irgendwie beruhigend. Und dann leuchteten vor mir zwei grüne
Augen auf, helle strahlende Augen, als einziges Licht in der undurchdringlichen Dunkelheit….