Etwa eine Woche nach dem Vorfall mit den Kindern klopfte es an der Tür, als sie gerade dabei war sich für einen Gang in die Innenstadt bereit zu machen. Sie öffnete und sah Dalar, der vor der Tür stand, erstaunt an.
"Kann ich reinkommen?"
"Natürlich." Amonan stellte ihren Korb weg und ging mit Dalar in die Küche. "Was ist los?"
"Du hast gesagt, dass mein Vater noch vor meiner Geburt gestorben ist. Aber warum ist er gestorben? Niemand will mir das sagen."
"Ich weiß nicht, woran er gestorben ist", log Amonan. Sie hoffte, dass er nicht weiter fragen würde, denn niemals hätte sie ihm sagen können, dass Verwandte seiner Mutter Galon umgebracht hatten, weil er als Duna keine Alenderin lieben durfte.
"Wenn meine Mutter noch leben würde, dann würde sie es mir bestimmt sagen."
"Ja, das würde sie."
Dalar sah sie nachdenklich an und strich sich dann die zersausten Haare aus dem Gesicht.
Erst jetzt sah Amonan, dass er auf der Stirn eine Beule hatte und zudem neue Kratzer im Gesicht.
"War das wieder Nebor?"
Einen Moment lang schien Dalar zu zögern, aber dann zuckte er nur die Schultern und senkte den Kopf. Amonan verstand nicht, weshalb er den Jungen decken wollte, aber das war seine Sache.
"Ich werde dir eine lindernde Salbe daraufgeben."
Dalar schüttelte den Kopf. "Nein, Mona, schau mal her." Er legte seine rechte Hand auf die Wange und schloss die Augen. Amonan war sich nicht sicher, aber sie glaubte, unter seiner Hand ein schwaches Leuchten zu erkennen. Dann zog er die Hand weg und sie sah, dass die Kratzer auf seiner Wange verschwunden waren.
"Hast du gesehen, was ich machen kann?" Zum vielleicht ersten Mal, seit Amonan den Jungen kannte, lächelte Dalar. "Ich kann das ganz ohne irgendwelche Salben heilen. Aber es macht ziemlich müde. Heißt das, dass ich ein Magier wie mein Vater bin?"
Amonan schüttelte den Kopf. "Nein, jeder Duna hat Heilkräfte, das muss nicht heißen, dass du auch ein Magier bist. Hör zu, Dalar, es wäre besser, wenn du von diesen Heilkräften niemandem erzählst."
"Aber warum nicht? Das ist doch praktisch!"
"Ja, das ist es, aber manchen macht das Angst."
Das Lächeln auf Dalars Gesicht verschwand. Er sah Amonan enttäuscht an und fragte dann leise: "Dann glaubst du also nicht, dass sie mich mögen würden, wenn sie sehen, dass ich Wunden heilen kann?"
Amonan seufzte. "Nein, leider nicht." Sie streckte eine Hand aus, um Dalar tröstend über die Wange zu streichen, aber er wandte sich von ihr ab. Langsam ließ Amonan ihre Hand wieder sinken und sah den Jungen mitleidig an.
"Soll ich dir eine Geschichte erzählen?", fragte er plötzlich. "Sie handelt von Monden und Sternen und ich habe sie gestern in einem Buch mit alendischen Märchen gelesen."
Amonan nickte auffordernd.
"Einmal lebte im Himmel ein kleiner Stern, der immer alleine war, weil er nicht wie die anderen Sterne zu einem Sternbild gehörte. Und deshalb verspotteten ihn die anderen Sterne. Der kleine Stern war sehr traurig und fühlte sich einsam.
Alle anderen Sterne erzählten immer die Geschichten ihres Sternbildes, sie erzählten von Tivons Reise zur Sonne, vom Tod von Ninumo und von dem Held Herio. Nur der kleine Stern hatte nichts zu erzählen. Er dachte sich zwar oft Geschichten aus, aber die anderen hörten ihm nie zu, weil sie es dumm fanden, dass er Geschichten erzählte, die gar nicht stimmten.
Die Monde waren damals auch traurig und immer ernst, denn sie waren aus den Tränen von Anâria entstanden und kannten deshalb keine Fröhlichkeit. Eines Tages baten sie die Sterne, ihnen Geschichten zu erzählen, die ihnen das Lachen lernen sollten. Sofort erzählten die Sterne die Geschichten, die sie sich auch untereinander immer erzählten: von Tivons Reise zur Sonne, von Ninumos Tod, von Seolvons Sieg über die Riesenschlange und von dem Held Herio. Aber die Monde hatten diese Geschichten schon sehr oft gehört und fanden sie langweilig. Sie wollten schon enttäuscht gehen, aber da kam der kleine Stern. Die anderen Sterne verspotteten ihn wieder und wollten ihn fortjagen, aber der kleine Stern erzählte den Monden all die Geschichten, die er sich ausgedacht hatte. Und da mussten ihm auch die anderen Sterne zum ersten Mal zuhören. Ihnen gefielen die Geschichten und sie waren so fröhlich wie schon lange nicht mehr. Und als der kleine Stern fertig war sahen alle, dass die Monde zum ersten Mal lächelten. Und von da an war der kleine Stern ein Held und alle mochten ihn." Dalar hob den Kopf und sah Amonan traurig an. "Ich würde auch gern die Monde zum Lächeln bringen. Vielleicht würden mich die anderen dann mögen."
Amonan wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie hätte Dalar gerne getröstet und ihm Hoffnung gemacht, aber sie wusste nicht wie. Er war einfach zu anders und fremdartig, als dass man ihn jemals völlig akzeptieren würde.
Dalar stand auf. "Auf Wiedersehen, Mona, und danke fürs Zuhören."
Die ganze nächste Woche musste Amonan immer wieder an Dalar und die Geschichte über den kleinen Stern denken. Und sie überlegte, ob er sie wohl wirklich in einem Buch gelesen oder sie sich nicht eher selbst ausgedacht hatte. Aber als sie tagelang weder Dalar sah noch mit ihrem Bruder sprach, begann sie die Gedanken an den kleinen Jungen zurückzudrängen und die Geschichte zu vergessen. Sie konnte Dalar nicht helfen, und deshalb war es sinnlos, sich ständig über ihn den Kopf zu zerbrechen.
Es vergingen über drei Wochen, bis Dalar erneut vor ihrer Tür stand. Amonan fiel gleich auf, dass er rotgeweinte Augen hatte und einen verstörten Eindruck machte. "Ich will mich nur verabschieden", sagte er.
"Verabschieden? Wieso denn das?"
"Ein Mann wird mich mit nach Lidáne nehmen. Er heißt Correon und ist im Hohen Rat. Er hat gesagt, dass jemand meine Vormundschaft übernehmen wird und dann bin ich nicht mehr namenlos."
Amonan war etwas überrumpelt. Sie wusste nicht, was sie von all dem halten sollte. Steckte da ihr Bruder dahinter? Wollte er Dalar etwa loswerden? Oder was konnte sonst der Grund sein, dass sich ein Ratsmitglied aus Lidáne plötzlich für ein kleines namenloses Kind interessierte?
"Willst du denn nach Lidáne?", fragte Amonan Dalar und sein erstaunter Blick machte ihr bewusst, dass ihn das bisher noch niemand gefragt hatte.
"Ich… ich weiß nicht. Ich kenne niemanden dort. Aber vielleicht mögen mich dort die anderen Kinder." Ein rasches Lächeln huschte über Dalars ernstes Gesicht. "Außerdem beten sie auf Lidáne die Mondgöttin an. Vielleicht werde ich dort die Monde zum Lächeln bringen und ein Held werden."
"Ja, vielleicht." Amonan spürte plötzlich einen Kloß im Hals, obwohl sie sich über ihre eigene Sentimentalität ärgerte.
"Auf Wiedersehen." Dalar stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte Amonan einen raschen Kuss auf die Wange, dann drehte er sich um und rannte aus dem Haus.
Amonan stand noch lange in der Tür und sah ihm noch nach, als er schon längst nicht mehr zu sehen war. Schließlich riss sie sich zusammen und schloss die Tür. Und obwohl sie wusste, dass das Lächeln der Monde im übertragenen Sinn gemeint war und Monde nicht lächeln konnten, nahm sie sich doch vor, den Himmel in der nächsten Zeit genauer zu beobachten.