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Das Lächeln der Monde

Amonan saß in der Küche am Fenster und schälte Nüsse, als sie plötzlich von lautem Kindergeschrei draußen aufgeschreckt wurde. Sie stellte die Schüssel mit den Nüssen zur Seite, stand auf und sah hinaus. Etwa zehn Kinder hatten einen Kreis gebildet, aber Amonan konnte nicht genau erkennen, worauf sie sich konzentrierten. Dann sah sie, dass unter all den dunkelhaarigen Kindern ein blonder Schopf hervorstach.
"Nicht schon wieder", seufzte Amonan und lehnte sich aus dem Fenster. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, hatte sich der blonde Junge von den anderen losgerissen und begann die Straße hinunter zu laufen. Die anderen folgten ihm sofort und besonders die größeren von ihnen holten ihn schnell ein. Ein etwa zehnjähriger Junge riss ihn zu Boden und begann sich mit ihm zu balgen, während die anderen ihn lautstark anfeuerten. Schließlich schien ihnen das allein zu langweilig werden und zwei weitere Kinder stürzten sich in den ohnehin schon unfairen Kampf.
Amonan fluchte leise und rannte aus dem Haus. Eilig lief sie auf die Kinder zu und rief schon von weitem laut: "Hört sofort auf!"
Einige drehten sich erschrocken um und wichen ein paar Schritte zurück, aber aus dem kämpfenden Knäuel am Boden schien sie niemand zu hören. Amonan riss den größten Jungen, der die Rauferei begonnen hatte, hoch. "Nebor, schämst du dich denn nicht?", fuhr sie ihn an. "Los, verschwinde! Und wenn ich dich dabei erwische, dass du Vendálar noch einmal etwas tust werde ich es deinen Eltern sagen."
Nebor streckte ihr trotzig die Zunge heraus, aber dann drehte er sich doch um und rannte davon, gefolgt von den anderen Kindern. Amonan wandte sich dem blonden Jungen zu, der am Boden kauerte und irgendwo zwischen Tränen und Wut schwankte. Seine Tunika war schmutzig und zerrissen, auf der Wange hatte er einen langen blutigen Kratzer und ein Knie war aufgeschürft.
Amonan seufzte, dann zog sie ihn hoch. "Komm mit."
"Nein, ich brauche deine Hilfe nicht!"
Amonan unterdrückte ein Lächeln. Anscheinend hatte die Wut gesiegt. "Nun sei nicht albern, Dalar, und komm mit. Oder willst du so nach Hause gehen?"
Der Junge wollte protestieren, aber dann schüttelte er kläglich den Kopf und folgte ihr ins Haus. Amonan reinigte seine Verletzungen, dann stellte sie ihm schweigend eine Schüssel voller Ilwarmai auf den Tisch. Dalar starrte eine Weile darauf, nahm sich aber keine der kleinen Kügelchen. Amonan betrachtete ihn nachdenklich. Er war ein eigenartiges Kind. Man sah ihn selten lachen, aber ebenso selten weinen und oft wirkte das, was er sagte, viel zu erwachsen für ein Kind seines Alters. Am häufigsten saß er so da wie jetzt: Ruhig und schweigsam und ins Leere blickend. Schließlich hob er den Kopf und sah Amonan aus großen, dunklen Augen an. "Mona, bin ich ein Namenloser?"
Sie zuckte zusammen und wich seinem Blick aus. Jetzt war es also bis zu den anderen Kindern vorgedrungen und sie befürchtete, dass sie Dalar nun gar keine Ruhe mehr lassen würden. Sie hatte ihren Bruder so oft gedrängt, er solle doch endlich die Vormundschaft über den Cousin seiner Frau übernehmen, aber bisher hatte er sich immer geweigert. Wahrscheinlich hatte auch er gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis so etwas wie heute geschehen würde, aber trotzdem würde ihn nichts in der Welt dazu bringen, die Vormundschaft für einen Halb-Duna zu übernehmen.
"Mona?"
Ihr wurde erst jetzt bewusst, dass der Junge sie immer noch fragend ansah. Sie zögerte, aber dann nickte sie. Wozu ihm etwas vormachen?
Dalar runzelte die Stirn und dachte nach. "Aber wieso bin ich ein Namenloser? Ich habe doch einen Namen. Ich heiße Vendálar - da kann ich doch nicht namenlos sein."
Amonan unterdrückte ein Fluchen. Wie um alles in der Welt sollte man so etwas einem siebenjährigen Kind erklären?
"Das hat mit deinem Vater zu tun", sagte sie schließlich. "Er war nicht mit deiner Mutter verheiratet und ist noch vor deiner Geburt gestorben. Deshalb konnte er dich nicht als seinen Sohn anerkennen und dir seinen Namen geben."
Sie fragte sich, ob das zu kompliziert für ein Kind war, oder ob Dalar nun zufrieden sein würde.
Der Junge schien angestrengt nachzudenken. "Aber wieso kann mir nicht irgendjemand anderer den Namen meines Vaters geben?"
"So einfach geht das leider nicht."
"Hm." Dalar senkte den Kopf. "Wieso haben die anderen was gegen Namenlose?"
"Ich weiß es nicht", sagte Amonan ausweichend.
Eine Weile herrschte Schweigen, dann sah Dalar wieder hoch. "Hast du meinen Vater gekannt?"
"Nein."
"Weißt du etwas über ihn? Wie hat er geheißen?"
Amonan zögerte, aber sie sah keinen Grund, es ihm zu verschweigen. "Er hieß Galon Estego. Ich weiß über ihn nur, dass er ein Duna war und ein Magier."
"Bin ich auch ein Magier?"
"Ich weiß es nicht, Dalar, aber ich glaube nicht."
Wieder schwiegen sie, aber schließlich stand Dalar auf. "Ich gehe jetzt nach Hause. Danke, Mona."
Amonan sah ihm nachdenklich hinterher, als er die Straße entlang zum Haus seiner Eltern lief. Sie hätte ihm gern geholfen, aber sie wusste nicht wie. Sie hatte die Verachtung der Einwohner Aldorans schon einmal am eigenen Leib gespürt, als sie als Alenderin einen Skonländer geheiratet hatte, aber mit der Zeit hatten sich die Leute daran gewöhnt, und nun hatte kaum noch jemand ein Problem damit. Aber dass jemand namenlos war, daran gewöhnten sich die meisten nie. Vendálar würde wahrscheinlich sein ganzes Leben lang mit der Verachtung leben müssen.
Amonan seufzte noch einmal auf, dann wandte sie sich wieder der Schüssel mit den Nüssen zu. Sollte sich doch ihr Bruder darüber Gedanken machen! Sie ging das alles nichts an. Trotzdem ging ihr Dalar nicht aus dem Kopf und mehrmals nahm sie sich vor doch noch einmal mit ihrem Bruder zu sprechen.

Etwa eine Woche nach dem Vorfall mit den Kindern klopfte es an der Tür, als sie gerade dabei war sich für einen Gang in die Innenstadt bereit zu machen. Sie öffnete und sah Dalar, der vor der Tür stand, erstaunt an.
"Kann ich reinkommen?"
"Natürlich." Amonan stellte ihren Korb weg und ging mit Dalar in die Küche. "Was ist los?"
"Du hast gesagt, dass mein Vater noch vor meiner Geburt gestorben ist. Aber warum ist er gestorben? Niemand will mir das sagen."
"Ich weiß nicht, woran er gestorben ist", log Amonan. Sie hoffte, dass er nicht weiter fragen würde, denn niemals hätte sie ihm sagen können, dass Verwandte seiner Mutter Galon umgebracht hatten, weil er als Duna keine Alenderin lieben durfte.
"Wenn meine Mutter noch leben würde, dann würde sie es mir bestimmt sagen."
"Ja, das würde sie."
Dalar sah sie nachdenklich an und strich sich dann die zersausten Haare aus dem Gesicht.
Erst jetzt sah Amonan, dass er auf der Stirn eine Beule hatte und zudem neue Kratzer im Gesicht.
"War das wieder Nebor?"
Einen Moment lang schien Dalar zu zögern, aber dann zuckte er nur die Schultern und senkte den Kopf. Amonan verstand nicht, weshalb er den Jungen decken wollte, aber das war seine Sache.
"Ich werde dir eine lindernde Salbe daraufgeben."
Dalar schüttelte den Kopf. "Nein, Mona, schau mal her." Er legte seine rechte Hand auf die Wange und schloss die Augen. Amonan war sich nicht sicher, aber sie glaubte, unter seiner Hand ein schwaches Leuchten zu erkennen. Dann zog er die Hand weg und sie sah, dass die Kratzer auf seiner Wange verschwunden waren.
"Hast du gesehen, was ich machen kann?" Zum vielleicht ersten Mal, seit Amonan den Jungen kannte, lächelte Dalar. "Ich kann das ganz ohne irgendwelche Salben heilen. Aber es macht ziemlich müde. Heißt das, dass ich ein Magier wie mein Vater bin?"
Amonan schüttelte den Kopf. "Nein, jeder Duna hat Heilkräfte, das muss nicht heißen, dass du auch ein Magier bist. Hör zu, Dalar, es wäre besser, wenn du von diesen Heilkräften niemandem erzählst."
"Aber warum nicht? Das ist doch praktisch!"
"Ja, das ist es, aber manchen macht das Angst."
Das Lächeln auf Dalars Gesicht verschwand. Er sah Amonan enttäuscht an und fragte dann leise: "Dann glaubst du also nicht, dass sie mich mögen würden, wenn sie sehen, dass ich Wunden heilen kann?"
Amonan seufzte. "Nein, leider nicht." Sie streckte eine Hand aus, um Dalar tröstend über die Wange zu streichen, aber er wandte sich von ihr ab. Langsam ließ Amonan ihre Hand wieder sinken und sah den Jungen mitleidig an.
"Soll ich dir eine Geschichte erzählen?", fragte er plötzlich. "Sie handelt von Monden und Sternen und ich habe sie gestern in einem Buch mit alendischen Märchen gelesen."
Amonan nickte auffordernd.
"Einmal lebte im Himmel ein kleiner Stern, der immer alleine war, weil er nicht wie die anderen Sterne zu einem Sternbild gehörte. Und deshalb verspotteten ihn die anderen Sterne. Der kleine Stern war sehr traurig und fühlte sich einsam.
Alle anderen Sterne erzählten immer die Geschichten ihres Sternbildes, sie erzählten von Tivons Reise zur Sonne, vom Tod von Ninumo und von dem Held Herio. Nur der kleine Stern hatte nichts zu erzählen. Er dachte sich zwar oft Geschichten aus, aber die anderen hörten ihm nie zu, weil sie es dumm fanden, dass er Geschichten erzählte, die gar nicht stimmten. Die Monde waren damals auch traurig und immer ernst, denn sie waren aus den Tränen von Anâria entstanden und kannten deshalb keine Fröhlichkeit. Eines Tages baten sie die Sterne, ihnen Geschichten zu erzählen, die ihnen das Lachen lernen sollten. Sofort erzählten die Sterne die Geschichten, die sie sich auch untereinander immer erzählten: von Tivons Reise zur Sonne, von Ninumos Tod, von Seolvons Sieg über die Riesenschlange und von dem Held Herio. Aber die Monde hatten diese Geschichten schon sehr oft gehört und fanden sie langweilig. Sie wollten schon enttäuscht gehen, aber da kam der kleine Stern. Die anderen Sterne verspotteten ihn wieder und wollten ihn fortjagen, aber der kleine Stern erzählte den Monden all die Geschichten, die er sich ausgedacht hatte. Und da mussten ihm auch die anderen Sterne zum ersten Mal zuhören. Ihnen gefielen die Geschichten und sie waren so fröhlich wie schon lange nicht mehr. Und als der kleine Stern fertig war sahen alle, dass die Monde zum ersten Mal lächelten. Und von da an war der kleine Stern ein Held und alle mochten ihn." Dalar hob den Kopf und sah Amonan traurig an. "Ich würde auch gern die Monde zum Lächeln bringen. Vielleicht würden mich die anderen dann mögen."
Amonan wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie hätte Dalar gerne getröstet und ihm Hoffnung gemacht, aber sie wusste nicht wie. Er war einfach zu anders und fremdartig, als dass man ihn jemals völlig akzeptieren würde.
Dalar stand auf. "Auf Wiedersehen, Mona, und danke fürs Zuhören."

Die ganze nächste Woche musste Amonan immer wieder an Dalar und die Geschichte über den kleinen Stern denken. Und sie überlegte, ob er sie wohl wirklich in einem Buch gelesen oder sie sich nicht eher selbst ausgedacht hatte. Aber als sie tagelang weder Dalar sah noch mit ihrem Bruder sprach, begann sie die Gedanken an den kleinen Jungen zurückzudrängen und die Geschichte zu vergessen. Sie konnte Dalar nicht helfen, und deshalb war es sinnlos, sich ständig über ihn den Kopf zu zerbrechen.
Es vergingen über drei Wochen, bis Dalar erneut vor ihrer Tür stand. Amonan fiel gleich auf, dass er rotgeweinte Augen hatte und einen verstörten Eindruck machte. "Ich will mich nur verabschieden", sagte er.
"Verabschieden? Wieso denn das?"
"Ein Mann wird mich mit nach Lidáne nehmen. Er heißt Correon und ist im Hohen Rat. Er hat gesagt, dass jemand meine Vormundschaft übernehmen wird und dann bin ich nicht mehr namenlos."
Amonan war etwas überrumpelt. Sie wusste nicht, was sie von all dem halten sollte. Steckte da ihr Bruder dahinter? Wollte er Dalar etwa loswerden? Oder was konnte sonst der Grund sein, dass sich ein Ratsmitglied aus Lidáne plötzlich für ein kleines namenloses Kind interessierte?
"Willst du denn nach Lidáne?", fragte Amonan Dalar und sein erstaunter Blick machte ihr bewusst, dass ihn das bisher noch niemand gefragt hatte.
"Ich… ich weiß nicht. Ich kenne niemanden dort. Aber vielleicht mögen mich dort die anderen Kinder." Ein rasches Lächeln huschte über Dalars ernstes Gesicht. "Außerdem beten sie auf Lidáne die Mondgöttin an. Vielleicht werde ich dort die Monde zum Lächeln bringen und ein Held werden."
"Ja, vielleicht." Amonan spürte plötzlich einen Kloß im Hals, obwohl sie sich über ihre eigene Sentimentalität ärgerte.
"Auf Wiedersehen." Dalar stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte Amonan einen raschen Kuss auf die Wange, dann drehte er sich um und rannte aus dem Haus.
Amonan stand noch lange in der Tür und sah ihm noch nach, als er schon längst nicht mehr zu sehen war. Schließlich riss sie sich zusammen und schloss die Tür. Und obwohl sie wusste, dass das Lächeln der Monde im übertragenen Sinn gemeint war und Monde nicht lächeln konnten, nahm sie sich doch vor, den Himmel in der nächsten Zeit genauer zu beobachten.


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