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Kinder der Nacht

I

Wenn sie es jetzt im Nachhinein betrachtete, fragte Lacyi sich, weshalb sie einen solchen Fehler gemacht hatte, aber natürlich war es jetzt zu spät um noch etwas zu ändern. Sie war so wütend gewesen und so verzweifelt. Er hatte kein Recht dazu, oder? Auch wenn er ihr Ehemann war hatte er doch wohl kein Recht sie so zu behandeln. Aber sie hätte es trotzdem schweigend hinnehmen sollen und darauf hoffen, dass es doch eines Tages besser werden würde. Oder sie hätte sich an ein Mitglied des Stadtrates wenden sollen. Stattdessen hatte sie nur abgewartet, bis Fenol das Haus verlassen hatte, um dann sofort ihren Rucksack zu packen und einfach wegzulaufen. Das war vor etwa drei Stunden gewesen und sie war sich großartig vorgekommen, unabhängig, frei, wagemutig. Aber jetzt, nach Sonnenuntergang, sah alles anders aus. Sie war noch nie nach Sonnuntergang alleine jenseits der Stadtmauern gewesen. Aber jetzt umkehren? Mitten in der Nacht zurückgehen zu ihm? Was würde er ihr antun, weil sie die Frechheit besessen hatte für Stunden wegzugehen ohne ihm zu sagen wohin? Nein, zurück konnte sie jetzt nicht mehr.
Aber warum war sie so dumm gewesen nach Osten zu gehen, in die Berge? Sie kannte sich hier nicht aus und auf allzu viele Siedlungen würde sie hier nicht mehr stoßen. Und jetzt hatte sie entweder die Wahl die ganze Nacht weiterzuwandern oder irgendwo in den Bergen zu übernachten. Beide Möglichkeiten waren nicht gerade verlockend, aber sie war ja selbst Schuld an ihrer unangenehmen Lage.
Ihre Füße schmerzten, sie war müde und hungrig. In ihrer Hast hatte sie an Nahrung nur ein Stück Honigbrot mitgenommen, und das hatte sie bereits vor geraumer Zeit hinuntergeschlungen. Jetzt hatte sie nichts mehr, nicht einmal Wasser hatte sie mitgenommen. Was war überhaupt sonst in ihrem Rucksack? Lacyi blieb stehen und öffnete ihn. Eine Decke, eine langärmelige Tunika, ihr kupferner Spiegel, die Armreifen, die sie einmal von ihrer Schwester bekommen hatte, ein Päckchen Teia und eine Öllampe. Sie fragte sich, wo sie ihren Verstand gelassen hatte, als sie die Sachen in den Rucksack geworfen hatte. Einen Spiegel und Schmuck, aber kein Messer, ein Päckchen Drogen, aber kein Wasser, eine Öllampe, aber keine Feuersteine. Lacyi ließ sich auf den Boden sinken und vergrub mutlos den Kopf in ihren Armen. Was sollte sie jetzt nur machen? Wie sollte es jetzt weitergehen? Sie dachte an das Päckchen Teia in ihrem Rucksack. Sie selbst hatte die Droge noch nie genommen, hatte aber erlebt, wie ruhig sie Fenol gemacht hatte, wie freundlich und geduldig, ganz anders als der Alkohol, der ihn immer in eine so aggressive Stimmung brachte. So wie heute Abend. Zögernd nahm Lacyi das kleine Stoffsäckchen aus dem Rucksack und öffnete es. Die weichen braunen Kügelchen darin rochen gut, ein wenig nach Honig und Lavendel. Sie nahm eine Kugel heraus und steckte sie in den Mund. Ein wenig Ruhe konnte sie jetzt gut gebrauchen. Das Teia schmeckte köstlich, süß und würzig und es zerschmolz langsam auf ihrer Zunge.
Zuerst fühlte sie gar nichts und Lacyi fühlte sich betrogen. Aber dann, allmählich, breitete sich eine Wärme in ihrem Körper aus und sie begann sich ganz leicht zu fühlen. Sie verstaute das restliche Teia wieder im Rucksack, stand auf und ging weiter. Müdigkeit und Hunger waren verschwunden, ebenso wie die Angst vor der Einsamkeit und der Dunkelheit. Sie ging und ging, wanderte unermüdlich weiter, zwar ohne ein Ziel zu haben, aber trotzdem ohne jede weitere Rast. Die ganze Nacht lang. Erst als die Sonne wieder aufging wurde sie müde und mit der Müdigkeit kamen auch Verzweiflung und Angst zurück.
Lacyi holte die Decke aus ihrem Rucksack, wickelte sich darin ein und legte sich auf den moosbedeckten Boden im Schutz eines niedrigen Baumes.

Sie wachte erst wieder auf, als die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Ihr Magen knurrte, ihr Kopf schmerzte und sie hatte einen solchen Durst, dass sie es kaum aushielt. Sie musste unbedingt einen Bach finden, aber im Moment konnte sie sich nicht einmal vorstellen einen Schritt zu gehen. Sie dachte an ihr warmes, weiches Bett daheim und den öffentlichen Brunnen gleich neben ihrem Haus, bei dem sie sich jederzeit frisches Wasser holen konnte. Aber sie konnte jetzt nicht mehr zurück, dazu war es zu spät. Verzweifelt sah sie sich um, ob nicht doch irgendwo in der Nähe eine kleine Quelle war. Und dann sah sie ihn - den knorrigen Baum, der von einem Blitz gespalten worden war und den sie gestern schon gesehen hatte. Sie musste die ganze Nacht lang im Kreis gelaufen sein. Eine Weile lang starrte Lacyi mutlos den Baum an und wusste nicht, was sie jetzt machen sollte. Sie wusste nur, dass sie Wasser finden musste und dass sie zu müde war um weiterzugehen.
Ob es schadete, wenn sie noch etwas Teia aß? In der Nacht hatte ihr die Droge geholfen und Lacyi hatte nicht das Gefühl, dass sie wirklich so ungesund war, wie viele behaupteten. Sie hatte sie frei und leicht gemacht, hatte die Angst vertrieben und den Hunger. Ja, sie würde noch eine der kleinen Kugeln essen und sich dann auf die Suche nach einem Bach und Beeren, oder etwas anderem Essbarem machen.
Zuerst nahm sie nur eine der Teia-Kugeln in den Mund, aber sie hatte einen solchen Hunger, dass sie noch zwei weitere aß. Wieder war Lacyi überrascht von dem süßen, köstlichen Geschmack des Teia und von der schnellen Wirkung. Nur wenige Minuten später fiel es ihr nicht mehr schwer aufzustehen und weiterzugehen. Das Wandern machte ihr jetzt solchen Spaß, dass sie sogar anfing leise zu singen. Was hatte sie vorgehabt? Einen Bach und Nahrung suchen? Wozu denn, wenn sie doch gar keinen Hunger mehr hatte? Auch der Durst war verschwunden. Lacyi lächelte glücklich und wanderte ziellos weiter. Sogar wenn sie an ihren Mann dachte wurde sie nicht mehr wütend.
Als sie wieder müde wurde suchte sie sich einen Platz zum Schlafen und schloss die Augen.
Sie musste die ganze Nacht durchgeschlafen haben, denn als sie aufwachte begann es bereits zu dämmern und im Osten verriet der helle Himmel den nahen Sonnenaufgang. Lacyis Kopf schmerzte so sehr, dass es beinahe unerträglich war. Ihr Mund war ganz trocken und der Durst so groß, dass sie kaum noch an etwas anderes denken konnte als an Wasser. Sie wollte sich aufsetzen, aber sofort verstärkten sich die Kopfschmerzen und ihr wurde schwindlig. Sie wusste, dass das Teia die Müdigkeit und die Schmerzen vertreiben würde, aber sie befürchtete, dass sie dann wieder auf alles andere vergessen würde, auch darauf, dass sie endlich etwas zu trinken finden musste. Andererseits wusste sie nicht, wie sie ohne die rasche Wirkung des Teia überhaupt aufstehen sollte. Sie schloss die Augen für einen Moment und versuchte dann erneut sich aufzurichten. Keine Chance. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als doch noch ein wenig Teia zu essen und zu hoffen, dass sie trotzdem nicht darauf vergessen würde etwas zu essen und zu trinken zu suchen. Sie tastete mit der rechten Hand nach dem kleinen Beutel, als plötzlich eine leise, sanfte Stimme hinter ihr sagte: "Nein, lass das."

II

Lacyi zuckte zusammen und jetzt gelang es ihr doch sich aufzurichten. Sie drehte sich mit dem Oberkörper halb um und erhaschte einen kurzen Blick auf eine hochgewachsene Gestalt hinter ihr. Dann wurde ihr schwarz vor den Augen und sie ließ sich mit einem Aufstöhnen wieder zurücksinken. Als das Schwindelgefühl nachließ blinzelte sie vorsichtig und sah die Gestalt jetzt neben sich knien. Sie machte die Augen ganz auf und unterdrückte einen entsetzten Schrei.
Die Gestalt war zwar eindeutig männlich, aber eindeutig nicht menschlich. Die helle, silbrig schimmernde Haut bildete einen eigenartigen Kontrast zu den schwarzen Haaren und verliehen dem Wesen ein seltsames Aussehen. Noch seltsamer aber waren die Augen: Es waren große, mandelförmige Augen wie die einer Katze - mit grüngelber Iris, schmalen schwarzen Pupillen und dunklem, wimpernlosem Rand. Das Gesicht war trotz seines fremden Aussehens schön, unmenschlich schön, und als das Wesen jetzt lächelte sah Lacyi spitze Eckzähne. Für einen Moment dachte sie, dass sie immer noch unter dem Einfluss des Teia stand und Halluzinationen hatte, aber dann streckte das Wesen eine Hand aus und kühle Finger berührten Lacyi an der Wange.
"Wie fühlst du dich?"
Die Berührung und die dunkle, ein wenig heisere Stimme, machten Lacyi bewusst, dass das, was sie kaum glauben konnte, wirklich stimmte: Ihr gegenüber saß ein Anatca. Ein Anatca, der sich zwar freundlich erkundigte, wie sie sich fühlte, aber doch ihr sicherer Tod sein würde.
Mit einem verzweifelten, erstickten Laut robbte Lacyi zurück, weg von dem Anatca.
"Hab keine Angst", versuchte der Mann sie zu beruhigen. "Ich werde dir nichts tun."
Lacyi schüttelte nur ungläubig den Kopf. Ein Anatca und ihr nichts tun? Er würde sie töten, ihr Blut trinken! Sie schluchzte hilflos auf und tastete mit der Hand nach irgendetwas, das sie als Waffe verwenden könnte.
"Nicht, kleine Menschenfrau. Ich werde dir wirklich nichts tun." Erneut ein katzenhaftes Lächeln. "Ich habe erst vor kurzer Zeit... gegessen." Der Anatca sah sie aufmerksam an. "Aber du hast wohl schon lange nichts gegessen. Komm mit mir, dann bekommst du Nahrung und Wasser, denn das brauchst du, nicht diese Droge."
Lacyi konnte ihm nicht so recht glauben. Es erschien ihr wahrscheinlich, dass sie nicht Nahrung bekommen würde, sondern dass sie selbst bald Nahrung sein würde. Sie schüttelte erneut kraftlos den Kopf und versuchte mit einer Hand nach dem Anatca zu schlagen. Er hielt ihre Hand mühelos fest und sah sie mitleidig an.
"Du kannst mir glauben - ich habe nicht vor, dein Blut zu trinken. Ich weiß, dass du Angst vor mir hast, aber du kannst nicht allein hier zurückbleiben. Bitte vertrau mir."
Lacyi starrte ihn schweigend an und hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, ob sie ihm tatsächlich glauben sollte. Es war schwierig, in seinen ruhigen Gesichtszügen zu lesen, aber es schien ihr, als würde er tatsächlich die Wahrheit sprechen.
"Kannst du aufstehen?"
Sie befürchtete, dass sie es nicht konnte, aber sie versuchte es. Ihr Kopf schmerzte, ihre ganzen Glieder fühlten sich unnatürlich schwer an und alles um sie herum begann sich zu drehen. Der Anatca hielt sie rasch an den Schultern fest, damit sie nicht umkippte, und dann, als er einsah, dass es so keinen Sinn hatte, hob er sie kurzerhand hoch. Lacyi wollte sich wehren, aber sie war viel zu müde und schwach dazu, deshalb hoffte sie nur, der Anatca würde ihr wirklich nichts tun. Aber wenn es seine Absicht gewesen wäre sie zu töten, dann hätte er das längst tun können, oder?
"Wie heißt du?", fragte sie den Anatca leise.
"Rhaleach", erwiderte der Anatca, und als er ihr Stirnrunzeln wegen des für ihre Ohren ungewohnten und schwierigen Namen bemerkte, fügte er mit einem Lächeln hinzu: "Du kannst Rhal zu mir sagen. Und jetzt nenn mir deinen Namen."
"Lacyi." Sie ließ ihren Kopf müde gegen den Oberkörper des Anatca sinken und schloss die Augen. Sie spürte, dass sie einen gewundenen Weg bergab getragen wurde und dann erkannte sie unter geschlossenen Lidern den plötzlichen Wechsel von dämmrigem Tageslicht zu völliger Dunkelheit. Sie öffnete rasch die Augen und alles, was sie sehen konnte, war, dass sie sich in einem Gang befinden mussten.
"Wo sind wir?", fragte sie unsicher.
"Auf dem Weg zu meiner Familie."
Seine Familie! Lacyi schnappte erschrocken nach Luft - noch mehr Anatca!
"Schon gut, Lacyi, sie werden dir nichts tun."
Da war sie sich nicht so sicher, aber jetzt war es ohnehin zu spät. Ängstlich klammerte Lacyi sich an dem dünnen Stoff von Rhals Gewand fest und hoffte bloß, er würde imstande sein, eine Horde von Anatca davon abzuhalten, ihr Blut zu trinken.
Der Gang schien kein Ende zu nehmen, aber schließlich mündete er in einer geräumigen Höhle. Lacyi vernahm leise Gespräche und sah die undeutlichen Konturen großer Gestalten, aber es war zu dunkel, als dass sie genaueres hätte erkennen können. Einige der Gestalten kamen auf sie zu und sie sah leuchtende Augen in der Dunkelheit. Einige Kerzen brannten in der Höhle, aber ihr Schein war zu schwach um den geräumigen Raum wirklich zu erhellen.
"Wer ist das?", fragte eine weiblich klingende Stimme und eine andere erkundigte sich amüsiert: "Was wird denn das, Rhal? Willst du jemanden beschenken?"
Rundherum war Gelächter zu hören und Lacyi presste sich angstvoll an Rhal. "Hört auf", sagte dieser energisch. "Ihr macht ihr Angst. Das ist Lacyi und sie steht unter meinem Schutz. Also tut ihr nichts."
"Was ist mit ihr?", fragte eine freundliche Stimme. "Ist sie verletzt?"
"Nein, aber sie ist nahe daran zu verdursten. Sie braucht etwas zu trinken. Wasser meine ich", fügte Rhal warnend hinzu. "Vergesst nicht, sie ist ein Mensch."
"Leg sie hierher", sagte die freundliche Stimme von vorhin und dann, lauter: "Und sorgt für Licht, die Arme kann ja gar nichts sehen im Dunkeln!"
Lacyi fühlte, wie sie auf eine weiche Unterlage gelegt wurde, und dann wurden mehrere Fackeln entzündet. Jetzt erst konnte sie genaueres erkennen: Von der großen Höhle führten unzählige Gänge anscheinend in kleinere Höhlen, und einzelne Bereiche des großen unterirdischen Raumes waren durch Tücher ein wenig abgetrennt. Es schienen die einzelnen Wohnstätten der Anatca zu sein. In der Mitte der großen Höhle befand sich ein steinerner Brunnen, unglaublich kunstvoll und doch schlicht in seiner Ausführung und Wasser plätscherte aus kleinen Öffnungen, floss über glatten, hellen Stein, um dann im untersten Becken aufgefangen zu werden. Schlanke Säulen stützen um den Brunnen herum die Höhlendecke und überall bewegten sich große Gestalten und einige Anatca standen um das Bett herum, auf dem sie lag und betrachteten sie neugierig. Bestimmt kam es nicht allzu oft vor, dass sich ein noch lebender Mensch hier unten befand. Zwar sahen sich die Anatca alle sehr ähnlich, wie Lacyi fand, aber sie erkannte doch, dass Rhal nicht in der Nähe war. Sie drehte sich in plötzlicher Panik zur Seite um besser sehen zu können. "Rhal?"
"Keine Angst, er kommt gleich wieder", beruhigte sie die weibliche Anatca neben ihrem Bett. An ihrer Stimme erkannte Lacyi, dass es die gleiche war, die vorhin nach Licht verlangt hatte. Die Frau sah sie freundlich an und machte zumindest vorerst nicht den Eindruck, als hätte sie es auf ihr Blut abgesehen.
In diesem Moment kam Rhal auf sie zu, in der einen Hand hielt er einen Becher, in der anderen ein Tablett mit Früchten, Nüssen und kleinen Haferkeksen. Er stellte das Tablett auf einem kleinen Tisch ab und setzte sich dann zu Lacyi auf die Bettkante. Behutsam schob er ihr einen Arm unter den Rücken um ihren Oberkörper zu stützen, während er ihr mit der anderen Hand den Becher an die Lippen setzte. Lacyi trank sofort gierig die kühle Flüssigkeit, die sie im ersten Moment als Wasser eingestuft hätte, wäre da nicht der leichte Geschmack von Minze gewesen. Als sie den Becher leer getrunken hatte, stellte Rhal ihn auf dem Tisch ab und zog sich das Tablett mit dem Essen auf seine Knie um Lacyi wie ein Kind zu füttern. Sie war immer noch zu müde um zu protestieren und genoss stattdessen die süßen Früchte und die knusprigen Haferkekse. Sie war erstaunt, bei den Anatca so gutes, vor allem aber so menschliches Essen vorzufinden, obwohl sie doch gedacht hatte, dass sie sich von Blut ernährten.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen sagte Rhal: "Blut brauchen wir nur ab und zu um bei Kräften zu bleiben, ansonsten ernähren wir uns nicht viel anders als ihr Menschen. Nur Fleisch essen wir keines."
Lacyi war beruhigt, das zu hören, denn irgendwie erschienen ihr die Anatca dadurch viel weniger als die blutrünstigen Bestien, für die sie sie gehalten hatte. Sie biss in ein weiters Haferkeks und schaffte es dann sogar, als sie hinuntergeschluckt hatte, Rhal scheu anzulächeln. "Warum hilfst du mir?"
"Weil du meine Hilfe brauchst", erwiderte der Anatca in einem Tonfall, als wäre ihre Frage völlig überflüssig. "Du hast dieses Teia gegessen, nicht wahr?" Jetzt klang seine Stimme missbilligend. "Es ist gefährlich, weil es das Bewusstsein verändert und Hunger und Durst vergessen lässt."
"Ich esse es nicht regelmäßig", verteidigte Lacyi sich. "Ich habe es vorher eigentlich noch nie gegessen, aber ich war müde und hatte Angst und dachte, es würde mir helfen..."
"Was hast du ganz allein in den Bergen gemacht? Wieso…." Rhal brach ab und betrachtete Lacyi plötzlich genauer aus seinen Katzenaugen. Er legte das Haferkeks, das er Lacyi gerade reichen wollte, wieder zurück auf das Tablett und berührte sie an der Wange. "Was ist mit dir passiert?"
"Ich...ich bin hingefallen."
Der Anatca sah sie skeptisch an und schüttelte dann den Kopf. "Nein, du bist geschlagen worden. Warst du deshalb allein in den Bergen? Bist du davongelaufen?"
Lacyi biss sich auf die Lippen und wich Rhals Blick aus. Sie gab keine Antwort.
"Andere zu schlagen, das ist typisch für euch Menschen." Zum ersten Mal klang Rhals Stimme wütend, aber dann wurde sein Tonfall wieder sanfter. "Ich kann das heilen, wenn du mich lässt."
Lacyi sah ihn ein wenig unsicher an, überlegte hin und her und nickte schließlich. Rhals kühle Finger glitten über die schmerzenden, geschwollenen Stellen in ihrem Gesicht und sie spürte sofort, wie der Schmerz nachließ und die Schwellung zurückging. "Vielen Dank", flüsterte Lacyi.
Rhal nickte nur und stand auf. "Tja, Lacyi, ich werde jetzt schlafen gehen, denn wir Anatca sind ein Volk der Nacht. Aber mir scheint, als könntest auch du noch ein wenig Schlaf gebrauchen. Ruh dich aus und hab keine Angst. Und wenn du irgendetwas brauchst, dann ruf einfach nach mir - ich bin gleich nebenan, hinter dem Vorhang."
Damit verschwand Rhal hinter dem schimmernden Stoff und die weibliche Anatca lächelte Lacyi noch kurz zu, ehe auch sie in einem der abgetrennten Wohnbereiche verschwand.
Irgendwie hatte Lacyi immer noch das Gefühl, sie müsse träumen, aber noch bevor sie länger über ihre ungewöhnliche Situation nachdenken konnte schlief sie ein und träumte nun tatsächlich.

III

Sie wurde von leisen, vielfältigen Geräuschen geweckt. Als sie die Augen öffnete sah sie, dass der Großteil der Anatca nun wieder auf den Beinen war und der täglichen Beschäftigung nachging. Die Höhle wurde immer noch von zahlreichen Fackeln erhellt und Lacyi hatte den Verdacht, dass die Fackeln nur für sie brannten, was sie erstaunte, da sie ja im Grunde nur eine Fremde, ein Eindringling, ein Beutetier war.
Die Anatcafrau, die am Morgen schon so freundlich zu ihr gewesen war, kam auf sie zu. "Wie geht es dir jetzt?"
"Gut", lächelte Lacyi und schwang die Beine über die Bettkante. Als sie aufstand fühlte sie sich ein wenig schwindelig, aber das Gefühl ließ rasch nach.
"Schön, dann komm mit mir, wenn du ein Frühstück willst. Ich bin übrigens Shorga, die Mutter von Rhal."
Lacyi sah sie ein wenig ungläubig an, denn die Frau schien nicht älter zu sein als Rhal selbst. Aber wenn sie jetzt darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass keiner der Anatca älter wirkte als vielleicht dreißig. Hieß es in den Mythen nicht, die Anatca wären unsterblich? Sie würde Rhal fragen, wenn sie ihn sah. Warum Rhal? fragte sie sich im nächsten Moment. Warum nicht Shorga? Lacyi schüttelte irritiert den Kopf, denn ihr wurde eben bewusst, dass sie Rhal vertraute. Sie vertraute einem Anatca. Anscheinend war die Wirkung des Teia noch nicht ganz verflogen, denn wenn sie bei klarem Verstand wäre würde sie bei Anatca bloß an eines denken: Flucht.
"Lacyi, kommst du?"
Sie nickte und folgte Shorga, während sie sich umsah. Es mussten hier wohl so um die dreißig Leute wohnen, auch wenn ein Großteil der Anatca nicht zu sehen war. Diejenigen, die sich in der Höhle aufhielten, waren alle eifrig beschäftigt: eine Frau färbte Stoffe, eine andere flocht Körbe und vor einem der abgetrennten Wohnbereiche saß ein männlicher Anatca und schnitzte eine kunstvolle Flöte. Das hieß also, dass sie Musik kannten. Und dabei hatte Lacyi gedachte, dass Anatca kaum intelligenter als Tiere wären. Zwei Kinder liefen an ihr vorbei, fröhlich und ausgelassen. Für einen Moment war Lacyi überrascht, da sie nun zum ersten Mal Anatca sah, die nicht diesen seltsam jugendlichen, zeitlosen Eindruck machten. Aber dann musste sie beinahe über sich selbst lachen. Natürlich musste es auch Kinder geben. Was hatte sie denn gedacht? Dass Anatca-Babys aus der Erde schossen wie Pilze?
Obwohl sich bestimmt an die zehn Anatca in der großen Höhle aufhielten und sich mit einander unterhielten war es ungewöhnlich still, aber Lacyi konnte zunächst nicht feststellen, was ihr an der Stille seltsam erschien, bis sie registrierte, dass die Anatca beinahe flüsternd miteinander sprachen. Zuerst dachte Lacyi es wäre wegen ihr, doch sie hatte den Eindruck, als würden sie immer so leise sprechen. Warum wohl? Mit ihr hatte Rhal doch auch in normaler Lautstärke geredet. Lacyi zuckte hilflos mit den Schultern. Ihr lagen hundert Fragen auf der Zunge, die sie sich nicht zu stellen traute, wie auch die Frage, woher die Anatca die frischen Früchte hatten, die Shorga ihr zum Frühstück anbot. In diesen finsteren Höhlen konnte man kaum Obst anbauen, oder doch? Lacyi wusste mittlerweile gar nicht mehr, was sie glauben konnte und was nicht.
Gerade als sie fertig gegessen hatte sagte eine bekannte Stimme: "Guten Morgen, Lacyi."
Sie wusste nicht, weshalb der Anblick von Rhal sie so erleichterte, aber aus irgendeinem Grund vertraute sie ihm. Lacyi befürchtete, dass sie dieses allzu schnelle Vertrauen vielleicht noch eines Tages bereuen würde.
Der Anatca ließ sich mit einer fließenden Bewegung ihr gegenüber nieder und betrachtete sie aufmerksam. "Was willst du jetzt tun?", fragte er sie schließlich. "In die Stadt zurückkehren?"
"Nein, auf keinen Fall", erwiderte Lacyi ohne lange zu überlegen. "Dorthin gehe ich nicht zurück."
Rhal sah sie weiterhin ruhig und interessiert an. "Wohin willst du dann gehen?"
Lacyi zuckte hilflos mit den Schultern. Diese Frage hatte sie sich auch schon gestellt, aber sie hatte keine Ahnung. Sie wusste nur, dass sie irgendwo anders hin wollte, nur nie wieder nach Ytonre zurück.
"Nun, heute wirst du wohl nirgends mehr hingehen."
Misstrauisch sah Lacyi Rhal an. Sollte das eine Drohung sein? Aber der Anatca lachte, als er ihren Blick bemerkte. "Es ist Abend", erklärte er. "Bald wird die Sonne untergehen."
"Dann kann ich noch einen Tag... Ich meine noch eine Nacht hier bleiben?"
Rhal lächelte und gab damit den Blick frei auf seine spitzen Eckzähne. "Natürlich kannst du. Die Frage ist nur, ob du das auch willst."
Seltsamerweise wollte sie es tatsächlich, obwohl sie allmählich zu ahnen begann, dass sie einen schrecklichen Fehler machte. Denn Tatsache war nun einmal, dass sie sich bei diesem Volk, das sich von menschlichem Blut ernährte, irgendwie wohl fühlte, so absurd und dumm das auch war. Aber Rhal war so freundlich, so sanft. Wann war das letzte Mal jemand so freundlich zu ihr gewesen?
"Ja", sagte sie deshalb. "Ich will noch eine Nacht bleiben."


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