Sie blieb nicht nur diese eine Nacht, sondern noch drei weitere Nächte. Mittlerweile
hatte sie herausgefunden, dass das labyrinthartige Höhlensystem der Anatca durch die Berge
hindurch zu einem Tal führte, in dem Getreide, Obst und Gemüse angebaut wurden. Lacyi
erschien das unerwartet normal, so menschlich, wie sie es von diesem Volk nicht erwartet
hatte. Die Pflanzen waren größer und fruchtbarer als gewöhnlich, was wohl auf die Erdmagie
der Anatca zurückzuführen war.
Am Morgen nach der ersten Nacht war Rhal mit ihr zu jener Höhlenöffnung gegangen, durch die
er sie hierher gebracht hatte und hatte sich mit ihr den Sonnenaufgang angesehen. Lacyi
bezweifelte, dass er in dem Sonnenaufgang die gleiche Schönheit sah wie sie, aber er hatte
wohl instinktiv geahnt, dass sie im Gegensatz zu ihm das Licht brauchte, sie, die kein
Geschöpf der Nacht war. Denn das hatte Rhal ihr am gleichen Morgen erzählt: dass sein Volk
selbst sich Dhiacheill nannte und das hieß "Kinder der Nacht". Seither war er jeden Morgen
mit ihr nach draußen gegangen, damit sie nicht ständig in der Dunkelheit war.
Die anderen Anatca begegneten Lacyi ebenfalls freundlich, aber ein wenig unsicher. Niemand
von ihnen hatte etwas dagegen, dass ihr zuliebe Fackeln brannten, aber auf ein Gespräch mit
ihr ließen sich nur wenige ein. Sie wollen sich nicht mit ihrer zukünftigen Nahrung
unterhalten, schoss es Lacyi manchmal durch den Kopf.
Am Abend vor der vierten Nacht, kurz nach dem Aufstehen, verhielt sich Rhal, der mit Lacyi
gerade beim Frühstücken war, plötzlich seltsam. Er zog die Augenbrauen zusammen und schien
irgendetwas zu wittern. Dann sprang er hastig auf und sagte knapp zu Lacyi: "Komm mit!"
Sie war so verdutzt, dass sie ihm ohne Widerrede folgte. Rhal ging mit ihr bis ins
verborgene Tal, wo sie sich auf einem Felsvorsprung niederließen und von den letzten
Strahlen der untergehenden Sonne gewärmt wurden.
"Was ist?", wollte Lacyi wissen, aber Rhal wich ihrem Blick aus und konzentrierte sich auf
den Sonnenuntergang. "Warum mussten wir so überstürzt hierher?"
Der Anatca sah sie immer noch nicht an, aber Lacyi, die ihn von der Seite betrachtete,
konnte Verlegenheit und Bedauern in seinen Gesichtszügen erkennen. Schließlich wandte er
sich ihr zu. "Es ist besser, wenn du jetzt nicht in der Höhle bist."
"Warum?"
Rhal lächelte ein wenig traurig, gab ihr aber keine Antwort. Das war auch nicht mehr nötig,
denn inzwischen hatte Lacyi verstanden. "Ein Mensch ist unten, nicht wahr? Ein Mensch, den
sie töten und von dem sie das Blut trinken."
Noch immer schwieg Rhal, aber sein Schweigen bestätigte Lacyi nur in ihrem Verdacht. Zum
ersten Mal seit Tagen wurde ihr wieder bewusst, bei welchem Volk sie sich zurzeit aufhielt
und dass sie nicht hierher gehörte. Trotzdem gefiel ihr der Gedanke die Anatca zu verlassen
nicht. Wohin hätte sie auch gehen sollen?
"Und was ist mit dir?", fragte sie Rhal.
"Es ist noch nicht so lange her, seit ich zuletzt Blut getrunken habe. Noch brauche ich es
nicht."
Eine Weile schwiegen sie beide, bis Lacyi fragte: "Wie alt bist du eigentlich?"
Wieder lächelte Rhal, aber dieses Mal ohne die Traurigkeit in seinem Blick. "Glaub mir, es
ist besser, wenn du die genaue Antwort nicht kennst."
"Ich nehme mal an, dass dein Alter bereits eine dreistellige Zahl ist?"
Rhal lachte über diese Formulierung und nickte. "Für die Verhältnisse meines Volkes bin ich
zwar noch jung, aber für menschliche Begriffe bin ich wohl uralt."
"Wie ist das, wenn man unsterblich ist?", wollte Lacyi scheu wissen.
"Nicht unsterblich, nur langlebig", verbesserte Rhal sie. "Auch wir Dhiacheill werden selten
älter als 800 Jahre. Du willst wissen, wie das ist? Ich weiß nicht, Lacyi - für uns ist das
normal. Aber wie ertragt ihr Menschen es nur so kurz zu leben?"
Diese Frage kam für Lacyi unvermutet. Sie hatte eigentlich nicht das Gefühl, dass das Leben
von Menschen kurz sei. Immerhin lebten sie um ein vielfaches länger als die meisten Tiere.
Aber einem Anatca musste ihre Lebensdauer natürlich kurz erscheinen.
"Das kurze Leben, das ist es, nicht wahr?", begann Rhal leise. "Deshalb seid ihr immer so
hektisch und handelt so unüberlegt. Ihr müsst bei allem schnell sein, denn sonst wird euch
die Zeit zu kurz, oder?"
Lacyi sah ihn verblüfft an, denn auf eine solche Idee wäre sie noch nie gekommen. Hielten
die Anatca wirklich alle Menschen für hektisch? Sie zuckte mit den Schultern und fragte dann
nachdenklich: "Ist es eure Magie, die euch so lange leben lässt?"
Jetzt war es Rhal, der sie verblüfft ansah. "Nein, das hat nichts damit zu tun. Unsere
magischen Kräfte sind gering im Vergleich zu denen mancher Dunai, und trotzdem leben sie
nicht länger als alle Menschenvölker."
"Die Dunai?"
"Das Volk von Palúa."
Lacyi nickte ungeduldig. Sie wusste, wer die Dunai waren, aber sie hatte gedacht, ihre
magische Macht wäre weitaus geringer als die der Anatca. Als sie das zu Rhal sagte
schüttelte er den Kopf. "Nein, wir haben zwar mehr Macht als die gewöhnlichen Dunai, aber
die Magier unter ihnen sind mächtiger als Menschen es sein sollten."
Lacyi sah ihn fragend an und er fuhr fort: "Sie beherrschen alle Elemente, während wir nur
über Feuer, Erde und Geist gebieten. Ein wirklich fähiger Magier - von denen es zum Glück
nur wenige gibt - ist das gefährlichste Geschöpf, das du dir vorstellen kannst. Stell dir
einen Menschen vor, der wirklich ohne Einschränkung über die Elemente gebieten kann. Seine
Macht wäre beinahe grenzenlos."
Das Gesagte überraschte Lacyi. Obwohl Ytonre eher abgeschieden lag gab es auch in dieser
Stadt dunaische Sklaven und sie wusste, was man über sie sagte: Dass sie stolz seien und
arrogant, aber auch anmutig und gewandt, was sie zu beliebten Gladiatoren machte. Es hieß,
dass die Dunai Heilkräfte hätten und die Fähigkeit, anderen ihre Gefühle zu übertragen, aber
noch nie hatte sie gehört, dass sie wirklich mächtige Magier wären.
"Es gibt nur noch wenige Magier", sagte Rhal, als hätte er ihre Gedanken gelesen. "Und unter
diesen wenigen gibt es nur sehr selten solche, die wirklich mächtig sind. Die meisten
begreifen ihre eigene Macht nicht oder sie leben zu kurz, um sie richtig entfalten zu
können."
"Woher weißt du das alles?"
Eine Weile schwieg Rhal und Lacyi dachte schon sie würde keine Antwort mehr bekommen, aber
dann sagte er: "Unsere beiden Völker sind miteinander verbunden. Zwischen uns Dhiacheill
und den Dunai gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten."
"Verbunden?", wiederholte Lacyi verwirrt. "Aber ihr und die Dunai seid doch völlig
verschieden."
Rhal schüttelte nur lächelnd den Kopf, aber Lacyi wusste, dass er zu diesem Thema nichts
mehr sagen würde. Sie versuchte das, was er gesagt hatte, zu verstehen, aber die
Vorstellung, dass die Dunai, das helle Volk des Nordens, mit den Anatca, den Kindern der
Nacht, verbunden sein sollten erschien ihr ziemlich absurd.
Und dann kam Rhal wieder darauf zu sprechen, was sie so überstürzt hier heraus geführt
hatte. "Willst du nun überhaupt noch einmal zurückgehen in die Höhle?"
Lacyi überraschte diese Frage ein wenig. "Ich wusste auch vorher, was ihr seid. Außerdem
wüsste ich nicht, wohin ich sonst gehen soll. Oder willst du, dass ich gehe?"
Der Anatca sah sie schweigend an und zuckte schließlich mit den Schultern. "Nein, Lacyi,
aber trotzdem gehörst du nicht zu uns. Das Problem ist nicht nur, dass wir das Blut von
Menschen trinken, das Problem ist auch, dass du es als fühlender Mensch nicht mehr lange
bei uns aushalten wirst."
"Ihr fühlt doch auch", wandte Lacyi verwirrt ein.
"Nicht so wie ihr. Wir können keine Trauer empfinden und keinen Hass." Rhal machte eine
kurze Pause, dann fügte er mit einem sanften Lächeln hinzu: "Und keine Liebe."
Lacyi schüttelte ungläubig den Kopf. "Aber ihr bekommt doch Kinder und..."
"Das setzt nicht unbedingt Liebe voraus", unterbrach Rhal sie trocken.
Zuerst wollte Lacyi protestieren, aber dann wurde ihr klar, dass er Recht hatte. Das
einzige, was sie und Fenol jemals gemeinsam gehabt hatten, war der Wunsch, Kinder zu
bekommen und doch hatte von Liebe nicht die Rede sein können.
"Willst du nun trotzdem wieder mit mir hineingehen?"
Als Lacyi nickte, betrachtete Rhal sie nachdenklich und meinte dann: "Und was die Sache mit
dem Blut betrifft, ich glaube, da lässt sich etwas machen."
V
Shorga leckte sich mit der Zunge über die Lippen, an denen immer noch der lebendige
Geschmack von Blut heftete und sah zu dem Gang, in dem ihr Sohn mit der Menschenfrau
verschwunden war. Anfangs hatte sie Mitleid gehabt mit der jungen Frau und hatte ihr helfen
wollen, aber jetzt schien sie zu einer Bedrohung zu werden. Denn die Veränderungen, die in
Rhal vor sich gingen, konnte nur sie bewirkt haben. Noch nie hatte Shorga erlebt, dass sich
ein Anatca mehr mit einem bestimmten Angehörigen seines Volkes beschäftigte als mit allen
anderen. Es lag nicht in ihrer Natur, enge Verbindungen mit einer einzelnen Person
einzugehen und sich dabei von den anderen abzusondern. Gewöhnlich empfand ein Anatca für
alle anderen seines Verbandes das gleiche: Freundschaft, Respekt und Achtung. Auch wenn zwei
Anatca beschlossen ein Kind zu zeugen, hieß das nicht, dass sie deshalb mehr füreinander
empfanden als für alle anderen. So war ihr Volk und so war es richtig. Aber die Menschen
fühlten sich anscheinend immer nur zu ein paar wenigen hingezogen, während sie sich mit den
anderen kaum beschäftigten. So war es auch mit Lacyi: Seit sie hier war hielt sie sich nur
an Shorga selbst, an eine junge Anatcafrau namens Ghulid und an Rhal, während sie mit allen
übrigen des Verbandes bisher kaum ein Wort gewechselt hatte. Aber während sie selbst und
Ghulid das nur beschränkt zuließen, unternahm ihr Sohn absolut nichts dagegen und schien
nun nur noch mit ihr zusammenstecken.
Es schien, als würde das, was Rhals Urgroßmutter bei seiner Geburt gesagt hatte, tatsächlich
wahr werden. Langsam begriff Shorga, weshalb ihr Sohn diesen für Anatca ungewöhnlichen
Namen hatte und dieses Begreifen machte ihr Angst. Sie hatte immer geahnt, dass Rhal anders
war, aber mit dem hier hatte sie nicht gerechnet. Es war falsch und es konnte vielleicht
gefährlich werden. Wohin würde das noch führen? Rhal war wichtig für diese Höhle - er war
der Heiler und Bethoun. Aber wenn der Bethoun, der dafür zu sorgen hatte, dass das göttliche
Prinzip der Anatca - keinem Lebewesen ohne Grund ein Leid zuzufügen - eingehalten wurde, nun
auf einmal begann Gefühle zu empfinden, die ein Anatca nicht haben sollte, dann würde das
möglicherweise sein Urteilsvermögen beeinträchtigen. Und deshalb war es umso wichtiger,
dass Rhal nicht länger dem schlechten Einfluss dieser Menschenfrau ausgesetzt wurde.
Jetzt tauchten die beiden in dem Gang auf und betraten die Höhle. Lacyi ließ ihre Blicke
ein wenig scheu über die anwesenden Anatca wandern, als befürchtete sie die Reste der
letzten Mahlzeit noch irgendwo zu sehen. Gerade noch hatte Shorga voller Ärger an sie
gedacht, aber jetzt konnte sie erneut nichts anderes als Mitleid und Sympathie empfinden.
Dieses Mädchen gehörte nicht hierher - es musste zurück zu seinem eigenen Volk. Doch als
Shorga sah, wie Rhal mit entschlossenem Gesichtsausdruck auf sie zukam, begann sie schlimmes
zu ahnen.
Ihre Ahnung bestätigte sich gleich darauf.
"Mutter", begann Rhal leise. "Ich möchte Lacyi ein ailgh geben, damit sie geschützt
ist."
Obwohl Shorga ihn verstehen konnte, wünschte sie sich doch, sie hätte ihm diesen Wunsch
sofort abschlagen können. Aber alles was sie tun konnte war eine Versammlung ihrer Höhle
einzuberufen und zu hoffen, die anderen würden dagegen sein.
VI
Lacyi wusste nicht, was eigentlich los war. Anscheinend hatte es niemand, auch Rhal
nicht, für nötig befunden, ihr eine Erklärung zu geben. Als sie zurück in die Höhle
gekommen waren hatte Rhal mit seiner Mutter gesprochen, und danach war für den folgenden
Abend eine Versammlung, bei der alle - außer ihr - anwesend sein sollten, einberufen worden.
Jetzt saß sie wieder auf dem Felsvorsprung beim verborgenen Tal und sah sich wie am Tag
zuvor den Sonnenuntergang an. Was sollte das? Was hatten sie vor? Ging es vielleicht um die
Frage, ob sie noch länger hier bleiben durfte? Oder um die Frage, ob sie eigentlich als
Nahrung zu betrachten war?
Lacyi fand es in jedem Fall nicht besonders freundlich, dass über sie diskutiert wurde und
sie selbst nicht anwesend sein durfte. Missmutig stützte sie den Kopf auf ihre Arme und
starrte das Tal mit den Bäumen und den kleinen Feldern an. Wie lange würde sie noch warten
müssen?
In diesem Moment sagte eine leise Stimme hinter ihr ihren Namen und Lacyi drehte sich rasch
zu Rhal um. Er sah mit einem zögernden Lächeln auf sie hinunter und setzte sich schließlich
neben sie. Sie sah, dass er etwas in der Hand hielt.
"Was hast du da?"
"Das ist ein ailgh", erklärte Rhal und hielt den Gegenstand hoch, der sich als
silberne Kette, an der ein glänzender schwarzer Stein hing, entpuppte. "Es wird dich
schützen, denn jeder Dhiacheill, der diese Kette sieht, weiß, dass er dir nichts antun
darf." Er legte die Kette um ihren Hals und verschloss sie in ihrem Nacken.
"Habt ihr in der Versammlung diskutiert, ob ihr mir das geben wollt?"
"Ja."
Lacyi berührte mit einer Hand den schwarzen Stein, der sich glatt und kühl anfühlte. Die
Kette legte sich eng um ihren Hals, aber nicht so fest, dass es unangenehm gewesen wäre.
"Danke", sagte Lacyi leise. Sie sah Rhal ein wenig unsicher an und wich schließlich dem
ruhigen Blick seiner gelbgrünen Katzenaugen aus. "Heißt das nun ich darf weiterhin hier
bleiben?"
Rhal nickte und seufzte dann. "Natürlich darfst du, aber ich verstehe nicht, weshalb du
das willst."
"Weil ich sonst nirgendwo hin kann." Nach einem Moment des Zögerns fügte Lacyi hinzu: "Und
wegen dir."
Einen Moment lang herrschte völlige Stille und Lacyi wagte es nicht Rhal anzusehen. Als
sie schließlich doch den Kopf hob und seinem Blick begegnete, war sie erschrocken darüber,
wie betroffen und traurig er auf einmal wirkte.
"Es tut mir leid", flüsterte Lacyi. "Ich hätte das nicht sagen sollen."
Rhal schwieg noch immer und sah sie weiterhin hilflos an. "Du weißt, was ich dir gestern
über unser Volk erzählt habe", sagte er dann.
Lacyi senkte den Kopf und flüsterte dann ein kaum hörbares "Ja". Sie wusste nicht, weshalb
sie das vorhin gesagt hatte, doch sie hatte nicht anders gekonnt. Im Grunde stand sie
ihren eigenen Gefühlen ebenso hilflos gegenüber wie Rhal. Er war doch ein Anatca, er kam
aus einem Volk, das für sie gefährlich war. Aber sie konnte an dem, was sie für ihn
empfand, nichts ändern, egal, ob es nun töricht war oder nicht.
Auf einmal streckte Rhal eine Hand aus und strich ihr über die Wange. Lacyi sah ihn
verwundert an. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so sanft berührt worden zu sein. Der
Anatca beugte sich zu ihr und hauchte ihr einen leichten Kuss auf die Stirn. Dann
schüttelte er plötzlich verwirrt den Kopf, sprang auf und verschwand in dem dunklen Gang.
VII
In den folgenden Nächten wusste Lacyi nicht, wie sie sich Rhal gegenüber verhalten
sollte und ihm schien es genauso zu gehen. Sie ahnte nur, dass sich zwischen ihnen etwas
geändert hatte und dass Rhal anders war als alle übrigen Anatca. Aber er schien sich zu
fürchten, davor, dass er anders war und davor, was er empfand, obwohl ein Anatca eigentlich
nicht imstande sein dürfte so zu empfinden.
Aber nach einer Weile - Lacyi wusste nicht, wie lange sie genau hier war, aber bestimmt
schon an die zehn Tage - schien Rhal sich zu verändern. Seine Haut wurde noch bleicher als
sie es ohnehin schon war und hatte den silbrigen Schimmer verloren, er kam Lacyi müde und
schwach vor und seine Augen waren weniger strahlend als sonst.
Wenn Lacyi mit ihm darüber sprechen wollte wich er ihr immer aus und hatte plötzlich etwas
furchtbar Wichtiges zu tun. Aber schließlich nahm sie sich fest vor ihn noch einmal zu
fragen und sich nicht wieder mit halbherzigen Antworten abspeisen zu lassen.
"Was ist los mit dir? Warum veränderst du dich so?"
Als Rhal nur den Kopf schüttelte und sich abwenden wollte griff Lacyi nach seiner Hand um
ihn zurückzuhalten. Sie zuckte erschrocken zusammen. Schon als er sie zum ersten Mal
berührt hatte war seine Haut ihr kühl vorgekommen, aber jetzt war seine Hand eiskalt und
wirkte seltsam leblos.
"Rhal!", flüsterte sie hilflos. Und dann verstand sie.
Der Anatca hatte sich wieder ihr zugewandt und sah die Erkenntnis in ihrem Gesicht. "Jetzt
weißt du, was mir fehlt."
Lacyi nickte. "Aber wieso hast du nicht... Ich meine, weshalb..."
Rhal seufzte lautlos. "Ich wollte nicht, dass du mich wieder für eine blutrünstige Bestie
hältst."
Lacyi wusste nicht, was sie sagen sollte. "Ich wusste sowieso von Anfang an, dass Anatca
Menschen töten", murmelte sie dann.
"Nein, du irrst dich! Wir töten normalerweise nicht, wir trinken nur soviel von dem Blut,
wie wir unbedingt brauchen. Wir töten nur jene Menschen, die sich in unsere
Höhlenlabyrinthe verirren, weil wir es nicht riskieren können, dass sie irgendjemandem
erzählen, wo der Eingang zu finden ist."
Eine Weile lang sah Lacyi ihn nachdenklich an, dann sagte sie leise: "Hör auf aus Rücksicht
auf mich zu... hungern. Dich so zu sehen ist für mich schlimmer als die Vorstellung, dass
du das Blut eines Menschen trinkst."
Rhal sah sie überrascht an, dann nickte er schweigend. In dieser Nacht ging er auf die Jagd.
Lacyi saß die ganze Zeit schweigend auf dem Felsen beim verborgenen Tal, einem Platz, den
sie in letzter Zeit öfter aufgesucht hatte. Es war nicht besonders dunkel, da der blaue Mond
voll war und die Landschaft in ein sanftes Licht tauchte. Immer wieder stellte Lacyi sich
vor, wie Rhal in Ytonre oder einem der nahen Bergdörfer nach einem geeigneten Opfer suchte,
es festhielt, sich mit den Zähnen seinem Hals näherte... An dieser Stelle konnte Lacyi nie
weiterdenken. Auch wenn Rhal nicht vorhatte sein Opfer zu töten konnte sie trotzdem nicht
verstehen, wie er so etwas fertig brachte. Und dann wurde ihr wieder klar, wie verschieden
sie waren und wie aussichtslos es war einen Anatca zu lieben. Was nichts daran änderte,
dass sie es trotzdem tat.
Die Nacht war beinahe vorüber, als endlich Rhals vertraute Stimme ihren Namen sagte und er
sich neben ihr niederließ. Lange sagte niemand von ihnen etwas. Schließlich wandte Lacyi
sich ihm zu und war froh wieder das übliche Leuchten in seinen Augen und den silbernen
Schimmer auf seiner Haut zu sehen. Rhal lächelte sie ein wenig unsicher an, so als wüsste
er nicht mehr, ob sie ihn überhaupt noch in ihrer Nähe haben wollte. "Und jetzt?", fragte
er leise.
Lacyi zuckte mit den Schultern. "Jetzt bist du auch kein anderer als vorher." Aber sie
wusste selbst, dass es eine Lüge war und deshalb stand sie auf um wieder zurück in die
Höhle zu gehen, damit sie nicht gezwungen war Rhal weiter anzulügen.
Bevor sie auch nur einen Schritt gehen konnte war Rhal aufgesprungen und hatte nach ihrer
Hand gegriffen. Seine Haut war jetzt warm und wirkte viel lebendiger als sonst. "Ich will
nicht, dass du dich wieder vor mir fürchtest. Ich würde dir niemals etwas tun."
Lacyi nickte. "Ich weiß, aber du bist so anders als ich und manchmal ist es schwierig
dieses Anderssein zu verstehen."
"Glaubst du nicht, dass es mir mit dir nicht auch manchmal so geht? Dein Anderssein ist für
mich ebenfalls ungewohnt."
Daran hatte Lacyi nie gedacht. Sie warf Rhal einen unsicheren Blick zu. Er hielt noch immer
ihre Hand fest, aber sie wollte auch gar nicht, dass er sie losließ. "Ich wünschte, du
wärst ein Mensch", sagte sie unvermittelt.
Rhal lächelte. "Das würde alles einfacher machen, nicht wahr? Aber in mancher Hinsicht bin
ich mir schon nicht mehr sicher, wie sehr ich überhaupt ein Dhiacheill bin."
Lacyi sah ihn unsicher und ein wenig fragend an. Der Anatca lächelte immer noch, aber es
war kein glückliches Lächeln. "Du weißt doch, was ich meine."
Das wusste Lacyi in der Tat und dann handelte sie einfach ohne langes Überlegen. Sie ging
einen Schritt auf ihn zu und legte beide Arme um ihn, spürte seinen jetzt so warmen Körper
und schmiegte sich an ihn. Er war ein ganzes Stück größer als sie, so groß wie ein Duna,
und sein Atem strich über ihre Haare. Zuerst schien er verblüfft, aber dann legte auch er
die Arme um sie und presste sie fest an sich.
So blieben sie lange stehen und obwohl Lacyi sich die ganze Zeit fragte, ob sie nicht einen
furchtbaren Fehler begingen, hätte sie ihn auf keinen Fall loslassen wollen.
VIII
Als sie zurück in die Höhle gingen hatte Lacyi das Gefühl, dass die anderen Anatca sie
anstarrten. Oder sie starrten Rhal an, der jetzt ein so ernstes Gesicht machte, als wäre er
auf dem Weg zu seiner Hinrichtung. Erst nach einer Weile wurde ihr klar, dass sie von
niemandem beachtet wurden - von niemandem außer von Shorga.
Die Anatca sah Lacyi mit einem durchdringenden Blick an und schließlich kam sie näher. "Ich
würde gern mit dir sprechen. Allein", fügte sie in Rhals Richtung hinzu. Er schien einen
Moment irritiert, aber dann nickte er und zog sich in seinen kleinen Wohnbereich zurück.
Lacyi fühlte sich plötzlich unbehaglich, als sie nun schutzlos Shorgas Blick ausgesetzt
war. Am Anfang hatte sie Rhals Mutter vertraut, aber in den letzten Nächten war ihr die
Anatca mit zunehmender Ablehnung begegnet.
"Weißt du, was sein Name bedeutet?"
Lacyi hob den Kopf und sah Shorga verwirrt an.
"Rhals Name. Hat er dir gesagt, was er bedeutet?"
Lacyi schüttelte den Kopf und fragte sich, worauf die Anatca eigentlich hinauswollte.
"Rhaleach heißt erwärmte Seele", sagte Shorga leise. "Liebende Seele, könnte man in deiner
Sprache auch sagen, denn wir haben in unserer Sprache kein eigenes Wort für Liebe. Rhals
Urgroßmutter hat ihm diesen Namen gegeben und für einen Dhiacheill ist dieser Name mehr
als ungewöhnlich."
"Soll das heißen, dass sie..."
"...die Zukunft gesehen hat?" Shorga warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. "Ich weiß
nicht. Zuerst schien es uns allen unmöglich, aber jetzt sieht es so aus, als würde sich
sein Name bestätigen."
Lacyi sah Shorga verlegen an und wusste nicht, was sie sagen sollte.
"Es ist nicht richtig. Ein Dhiacheill sollte nicht so fühlen können." Shorgas Stimme klang
beinahe verbittert. "Letztendlich wird es euch beiden schaden. Geh zurück in deine Welt,
Lacyi, zurück zu deinem Volk, wo du hingehörst."
"Aber", begann Lacyi hilflos. "Ich kann nicht, ich..."
Shorga sah sie finster an. "Natürlich kannst du, aber du willst nicht. Warum nicht?"
"Weil ich Rhal liebe!"
Eine Weile starrten sich die beiden Frauen schweigend an, dann schüttelte Shorga langsam
den Kopf. "Du weißt nicht, was du da sagst."
"Doch!", widersprach Lacyi ihr heftig. "Du kannst das außerdem gar nicht beurteilen, denn
du weißt nicht einmal, was Liebe ist."
"Geh weg von hier. Das wäre sowohl für dich als auch für Rhal das Beste."
Lacyi schüttelte den Kopf und begegnete trotzig Shorgas Blick. Plötzlich trat diese näher
auf sie zu und griff nach ihrem Oberarm. "Geh weg von hier und vergiss Rhal. Denn auch
die Kette wird dich nicht immer schützen können."
Der drohende Unterton in Shorgas Stimme und die plötzliche Wut in ihrem Blick machten
Lacyi Angst. Sie wich mit einem leisen, verängstigten Laut von der Anatca zurück. Dann riss
sie sich los, drehte sich um und flüchtete hinter den Vorhang von Rhals Wohnbereich.
Der Anatca, der auf seinem Bett saß, sprang auf und sah sie überrascht an, denn bisher war
Lacyi noch nie einfach hierher gekommen. Einen Moment blieb sie wie angewurzelt stehen
und starrte zurück, aber dann überwand sie die Distanz zwischen ihnen mit einem raschen
Schritt und klammerte sich an ihm fest. "Sie wird mich töten!"
"Was?" Rhal schob sie energisch ein Stück von sich fort und blickte sie irritiert an. "Wer
wird dich töten? Was redest du da?"
"Deine Mutter", flüsterte Lacyi. "Wenn ich nicht von hier fortgehe wird sie mich töten.
Aber ich will nicht von hier fort."
"Lacyi, niemand wird dich töten. Du hast doch die Kette."
"Aber sie hat gesagt, dass auch die Kette mich nicht immer schützen wird." Lacyi begann
hilflos zu weinen. "Ich habe Angst."
Rhal sah sie erschrocken an, dann legte er die Arme um sie und streichelte sanft ihren
Rücken. "Du hast das bestimmt falsch verstanden. Meine Mutter würde dir nicht drohen."
"Genau das hat sie aber gerade getan!" Lacyi schmiegte sich an Rhal und vergoss weitere
Tränen in den Stoff seines Gewandes.
"Ich bin mir sicher, dass es ein Missverständnis war", flüsterte Rhal. "Am besten gehst du
jetzt schlafen und morgen spreche ich mit meiner Mutter."
"Aber..."
"Bitte, Lacyi."
Sie schluckte und wandte sich ab. Irgendwie fühlte sie sich von Rhal verraten. Ohne ein
weiteres Wort verließ sie seinen Wohnbereich und verschwand hinter dem Vorhang, wo ihr
Bett stand.
IX
Shorga hatte beobachtet, wie die Menschenfrau Rhals Wohnstätte verlassen hatte,
enttäuscht und voller Angst. Es tat ihr leid, dass sich Lacyi nun vor ihr fürchtete, aber
es war besser so, denn vielleicht würde sie die Höhle nun verlassen. Wenn nicht, wäre sie
vielleicht wirklich gezwungen sie zu töten, obwohl Shorga das nicht gern tun würde.
Die Vorhänge von Rhals Wohnbereich bewegten sich und dann trat ihr Sohn heraus. Er sah
sich suchend um, erblickte Shorga und trat auf sie zu. Einen Moment lang blieb er
schweigend vor ihr stehen, sah sie ein wenig unsicher an. "Du hast ihr doch nicht wirklich
gedroht, oder?"
"Sie muss von hier fort. So schnell wie möglich und solange die anderen sie noch gehen
lassen. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich zur Zeit auf andere Dinge, aber wenn sie sich
wieder mit dem Problem, was nun mit Lacyi geschehen soll, auseinandersetzen, werden sie
vielleicht zu dem Entschluss kommen, dass wir sie nicht mehr gehen lassen können, weil sie
zu viel von uns weiß. Deshalb sollte sie jetzt sofort verschwinden."
Rhals Gesicht verfinsterte sich, und als Shorga ihn aufmerksam ansah, erkannte sie, dass
etwas anders war. Er hatte sich auf eine Weise verändert, die nur gefährlich sein konnte.
"Ich hatte Mitleid mit ihr, als du sie gebracht hast, aber ich war nur damit einverstanden,
dass wir ihr helfen, nicht damit, dass sie tagelang hier bleibt. Du kannst sagen, was du
willst, Rhal, aber letztendlich ist sie einfach nur Nahrung."
"Für dich ist sie das, für mich nicht."
Shorga wandte sich von ihm ab, weil seine Worte und die Gefühle, die sie in ihm spüren
konnte, sie verwirrten. Sie konnte ihn nicht verstehen und das machte ihr Angst. Noch nie
hatte sich in dieser Höhle ein Anatca vor einem anderen gefürchtet. Das, was Lacyi bei Rhal
und durch ihn bei ihnen allen bewirkte konnte nur Verderben bringen. "Du liebst sie",
stellte sie nüchtern fest.
Rhal lachte unsicher. "Dhiacheill können nicht lieben."
Seine Mutter schnaubte nur verächtlich. "Normalerweise nicht, aber irgendwie scheinst du in
dieser Hinsicht kein normaler Dhiacheill zu sein. Ich frage mich nur, wohin das noch
führt? Heißt das nun, dass du auch hassen kannst? Du weißt, dass es das ist, was die
Menschen im Vergleich zu uns so schwach macht: Liebe und Hass."
"Vielleicht ist es keine Schwäche", meinte Rhal zögernd. "Sie sind einfach nur anders als
wir."
"Wenn ich mir ihre Lebensweise anschaue, ihre Unbeherrschtheit, ihre Streitlust und die
Tatsache, dass sie Angehörige ihrer eigenen Art töten, dann kann ich darin nur Schwäche
sehen. Und Lacyi ist ein Mensch, sie ist wie sie. Sie wird uns nur Unglück bringen. Du
wirst uns mit diesen Gefühlen Unglück bringen", fügte sie hart hinzu. "Wenn sie nicht bald
freiwillig geht, dann..."
"...dann wirst du sie töten, nicht wahr? Dann hat sie Recht gehabt mit dem, was sie vorhin
gesagt hat."
"Rhal, es muss sein. Sie stellt eine Gefahr dar."
"Aber sie trägt die Kette - sie ist geschützt."
Shorga zog die Augenbrauen zusammen und sah ihren Sohn finster an. "Ich bin nicht die
Einzige, die Lacyi loswerden will. Bald wird niemand mehr die Bedeutung der Kette
respektieren und dann ist sie nicht mehr geschützt."
"Dann werde ich sie schützen!"
Das zu hören verwunderte Shorga zwar nicht wirklich, aber es erschreckte sie trotzdem.
"Heißt das, du würdest dich gegen einen von uns wenden um sie zu schützen?"
"Ja." Rhals Antwort kam so schnell und ohne Zögern, dass Shorga vor ihm zurückschreckte.
"Du weißt ja nicht, was du da redest! Wenn du dich gegen einen von uns wendest ist das das
schlimmste Verbrechen, was du überhaupt begehen kannst. Und wofür? Für eine Menschenfrau!
Für ein Beutetier!"
"Sie ist keine Beute", stellte Rhal mit bemüht ruhiger Stimme fest.
"Nicht? Ich rieche ihr Blut." Shorgas Stimme wurde zu einem Flüstern. "Sie sollte von hier
verschwinden und sich nie wieder in deine Nähe wagen, sonst wird sie bald meine Beute."
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